Der «Digital Services Act» (DSA) der Europäischen Union (EU) gilt seit dem 17. Februar dieses Jahres für alle Onlineanbieter in der Bundesrepublik, egal wie gross sie sind, vom Vermittlungsdienst über Hosting-Firmen bis hin zu sozialen Netzwerken und Online-Marktplätzen. Bereits ab August 2023 betraf er die ganz grossen Plattformen wie Google, X (früher Twitter), Facebook, TikTok und so weiter.
Das Regelwerk mit seinen 102 Seiten muss jeweils in nationale Gesetze übersetzt werden, in Deutschland in das «Digitale-Dienste-Gesetz» (DDG). Der Bundestag hat erst am 18. Januar darüber beraten und den Entwurf an den zuständigen Digitalausschuss überwiesen. Der beschäftigte sich am 21. Februar damit. Voraussichtlich im März soll der Entwurf in einer 2. und 3. Lesung vom Parlament beraten und als Gesetz verabschiedet werden.
Meist wird begrüsst, dass mit dem DSA die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer im Internet und auf den Online-Plattformen gestärkt würden. Kritische Stimmen machen darauf aufmerksam, dass «hinter der schönen Fassade» das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ins Visier genommen wird. Sie weisen darauf hin, dass zahlreiche DSA-Bestimmungen «zu Denunziation und Zensur förmlich aufrufen».
«Herrschaft des Verdachts» droht
Darauf machte unter anderem der Journalist Alexander Grau bereits im August 2023 im Magazin Cicero aufmerksam. Der ehemalige Richter Manfred Kölsch warnte in einer Analyse zum DSA-Regelwerk:
«Eine mit der grundrechtlich geschützten Meinungs- und Informationsfreiheit und generell mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare ‹Herrschaft des Verdachts› wird nach deren Einführung während der Coronazeit als eine Art Gewohnheitsrecht weitergeführt.»
Kölsch zeigte Mitte Januar in einer detaillierten Analyse zum DSA, «wie nationale und EU-Institutionen Hand in Hand alternative Informationsflüsse verhindern. Sie höhlen damit die verfassungsrechtlich verankerte Meinungs- und Informationsfreiheit aus und befördern dieses Bestreben durch ein europaweit gespanntes Überwachungssystem».
Kölsch war fast 40 Jahre lang Richter, unter anderem am Landgericht Trier, und hatte 2021 aus Protest gegen die Corona-Massnahmen sein Bundesverdienstkreuz zurückgegeben. Seine Analyse zum DSA war zuerst auf der Webseite des Netzwerkes Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) und zwei Tage später in einer Kurzfassung in der Berliner Zeitung zu lesen.
Darin belegte er anhand der einzelnen Bestimmungen des Regelwerkes, wie dieses die Richtung vorgibt, «in die die europäische Digitalpolitik mit deutscher Unterstützung voranschreitet». Sein Fazit: Der DSA eigne sich wegen seines Umfangs und seiner Komplexität nicht zur öffentlichen Debatte.
«Fassade der Rechtsstaatlichkit»
Er betreffe die Bürger nicht direkt, sondern «schleichend». Seine Brisanz sei nicht unmittelbar erkennbar, weil er sich als rechtsstaatliche Grundsätze achtende Gesetzgebung präsentiere, welche die Monopolisierungsbestrebungen der grossen Internetplattformen einschränken will, so der frühere Richter.
«Hinter dieser Fassade der Rechtsstaatlichkeit wird jedoch wissentlich das von Art. 11 der EU-Grundrechtecharta, Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 5 GG garantierte Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehöhlt.»
Es geht dabei um Zensur von Inhalten im Internet und auf Plattformen. Die ermöglicht der DSA mit Hilfe von Löschungen und Sperrungen von Inhalten und ganzen Kanälen aufgrund von Hinweisen von Nutzern und «Hinweisgebern» auf vermeintliche rechtswidrige und möglicherweise gefährliche Inhalte, auf «Hassrede», «Desinformation» und Falschnachrichten. Diese sind im Regelwerk ziemlich ungenau definiert.
«Brüssel hat aus Corona gelernt und greift nach dem Netz», kommentiert das der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen in der Zeitschrift Hintergrund (Ausgabe 1/2-24).
«Das Ziel steht gleich in Artikel 1, veröffentlicht am 19. Oktober 2022, für alle Plattformen und Suchmaschinen gültig ab 17. Februar 2024 und für die Grossen schon seit August 2023: ein ‹sicheres, berechenbares und vertrauenswürdiges Online-Umfeld›.»
Lernfähiger Staat
Der Staat habe aus den anfangs überraschenden Protesten gegen die Corona-Politik gelernt:
«Im Klartext: Noch einmal wird sich der Staat nicht so leicht herausfordern lassen. Das Bundeskriminalamt, das in Deutschland die Aufsicht übernehmen soll, plant mit 450 neuen Stellen. DSA-Artikel 36 beschreibt einen ‹Krisenreaktionsmechanismus›, der Brüssel drei Monate lang erlaubt, Anbieter einzuschränken oder ganz vom Netz zu nehmen, wenn die Kommission ‹öffentliche Sicherheit› oder ‹öffentliche Gesundheit› bedroht sieht.»
Kritische Sichten wie die von Kölsch oder Meyen waren am Mittwoch im Digitalausschuss des Bundestages nicht zu vernehmen. Laut einem Bericht dazu auf der Bundestagswebseite gab es nur an einzelnen Punkten des Gesetzentwurfes «moderate Kritik» durch die eingeladenen Experten.
Den meisten von ihnen ging es demnach vor allem um Verfahrensfragen wie die Regelungen der Kontrolle und Aufsicht, wie die DSA-Vorgaben hierzulande umgesetzt werden. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur und ehemaliger Grünen-Politiker, erklärte laut dem Bericht, seine Behörde erfülle bereits die DSA-Aufgaben und unterstützte die EU-Kommission bei ihren Verfahren gegen die Plattformen X und TikTok. Diesen wird unter anderem ein Verstoss gegen die DSA-Vorgaben, angeblich illegale Inhalte und Desinformation zu bekämpfen, vorgeworfen.
Der Bundestagsausschuss hatte den eingeladenen Expertinnen und Experten aus Verbänden und Institutionen vorab einen Katalog aus 16 Fragen übersandt. In dem war immerhin eine zur «Balance zwischen dem Ziel, die Verbreitung von problematischen Online-Inhalten zu regulieren, und dem Grundrecht auf freie Meinungsäusserung» enthalten. Einige der Antworten darauf machten beispielsweise auf die unklaren Formulierungen im DSA aufmerksam.
Unscharfe Begriffe
Jurist Kölsch hat in seiner erwähnten Analyse unter anderem darauf hingewiesen, dass der Begriff «Desinformation» im DSA nicht definiert ist, aber mehrfach erwähnt wird. Auch in der Stellungnahme der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) für den Ausschuss wird deren Missachtung und Gefährdung, wie sie Kölsch beschreibt, nicht weiter benannt.
Es wurde nur erwähnt, dass der DSA anders als die deutsche Rechtsprechung nicht ausdrücklich vorsehe, dass die Nutzer der Plattformen vor einer Sperre ihres Accounts angehört werden. Die Grundrechte würden aber eine solche verfahrensrechtliche Absicherung «meistens notwendig machen».
Kölsch hatte seine Kritik am EU-Regelwerk am 16. Februar in einem Beitrag im Magazin Cicero wiederholt und aktualisiert. «Die Meinungsfreiheit stirbt hinter schönen Fassaden», stellte er darin fest. Hinter dem offiziellen Bekenntnis zum Schutz von Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta, Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 5 des Grundgesetzes werde «die Axt an fundamentale Grundsätze unseres demokratischen Gemeinwesens gelegt».
Nach Artikel 34 des DSA müssen die Plattformen nicht nur rechtswidrige Einträge löschen, sondern auch auf «kritische» und auf «nachteilige» Einträge achten. Die sogenannten Erwägungsgründe des EU-Regelwerkes machen aus Sicht von Kölsch «das demokratiefeindliche Anliegen» der EU-Kommission deutlich. Diese habe 2018 «Desinformation» als «nachweislich falsche und irreführende Information» beschrieben.
Nutzer als Störer
Die «ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen» als «Lebenselement freiheitlicher Grundordnung» werde verkümmern und «betreutes Denken» um sich greifen, befürchtet er. Die vagen Generalklauseln des DSA, wenn es um zu löschende Einträge geht, seien «als indirekter Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit» zu werten.
«Der Nutzer wird sich hierbei stets als ein möglicher Störer/Gefährder der ‹öffentlichen Debatte› und der ‹öffentlichen Sicherheit› begreifen.»
Kölsch warnt davor, dass durch die unscharfen Begriffe und Vorgaben «ein Klima des gegenseitigen Misstrauens» erzeugt wird. Er rechnet damit, dass die grossen Plattformen und Suchmaschinen zum «Overblocking» neigen und bereits aus wirtschaftlichem Interesse vermeintlich zweifelhafte oder gefährliche Einträge löschen werden, bevor «Hinweisgeber» auf solche aufmerksam machen.
Das laufende Verfahren der EU-Kommission gegen die Plattformen X und TikTok wegen «mangelnder Bekämpfung von Desinformation» gilt Kritikern als Beispiel für die eigentlichen Ziele des DSA. «Dieser erste Praxisfall des DSA offenbart, wie schnell die EU-Kommission bereit ist, die im Gesetz unklar definierten Paragrafen zu missbrauchen – auch um den Diskurs zu steuern und ihn auf eine besondere Art und Weise zu regulieren», schrieb der Journalist Jakob Schirrmacher Anfang November 2023 in der Zeitung Die Welt.
Er verwies wie Kölsch auf den in Artikel 36 des DSA benannten «Krisenreaktionsmechanismus», welcher der EU-Kommission im Krisenfall besondere Zuständigkeiten einräumt. Die reichen danach bis hin zu kompletten Abschaltungen von Plattformen, wenn die Betreiber nicht rechtzeitig gegen «rechtswidrige Inhalte» vorgehen.
Was damit konkret gemeint ist, hat der zuständige EU-Kommissar Thierry Breton im Sommer vergangenen Jahres deutlich gemacht. Er sagte in einem TV-Interview, bei sozialen Unruhen könnte die EU-Kommission ganze Social-Media-Plattformen abschalten lassen: «Wir haben Teams, die sofort eingreifen können.» «In Anbetracht der letzten Jahre wäre der Krisenmechanismus des DSA durchgängig wirksam gewesen», stellte Schirrmacher dazu in der Welt fest.
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