Der gesellschaftspolitische Alltag gleicht bisweilen einem Alptraum. Eine Krise löst die andere ab. Beinahe täglich erscheint am Horizont eine neue Gefahr. Die Gesellschaft ist tief gespalten, die Regierung zunehmend autoritär. Unter diesen Umständen kommt mitunter das Gefühl auf, den Verstand zu verlieren – und mit ihm der Wunsch nach einer Quelle der Lebenshoffnung. Eine solche findet sich in dem Debütalbum «White Russian» des Rappers Brigo.
Der Newcomer aus dem Oldenburger Land mischt auf insgesamt zwölf Tracks positive Vibes mit sozialkritischen Tönen. Ein Grundmotiv des Albums ist der physische wie mentale Überlebenskampf im Alltag. Brigo lässt stets ein lyrisches Ich auftreten, das rappend den Widrigkeiten trotzt und gegen das Scheitern ankämpft. Getrieben von einem unerschütterlichen Selbstvertrauen motiviert es sich selbst wie die Zuhörer. Bloss nicht aufgeben, lautet das Motto, das sich wie ein roter Faden durch das ganze Album zieht.
Klassisches Storytelling
Gleich der erste Song spricht es im Titel aus: «Es zählt der Versuch». «Ich schiess aus der Versenkung empor / Fühlte mich lange, als wär ich im Gefängnis geboren / Und spreng jetzt endlich das Tor», lauten die Anfangszeilen. Brigos Sprechgesang kommt nicht mit dem Schlaghammer daher, nicht im Stile eines Battle-Raps, sondern leichtfüssig und geschmeidig, mit einem Timbre, das an den Hip-Hop der 1990er-Jahre erinnert. Seine Songs erzählen Geschichten, vom urbanen Dschungel und von wiederentflammten Liebesbeziehungen, von Ausbeutung und skrupellosen Rattenfängern, von inneren Konflikten und beglückenden Träumen.
Brigos Musik ist klassisches Storytelling, garniert mit rhythmischen Cuts und Scratches. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Rapperin in der alternativen Hip-Hop-Szene. Seine Texte leben von einprägsamen Sprachbildern, von kreativen Wortspielen und Anglizismen. Sie sind sozialkritisch, ohne monothematisch das wiederzukäuen, was seit knapp vier Jahren täglich die Schlagzeilen bestimmt – ob in den Mainstream- oder in den alternativen Medien. «Krise hier, Krise da», heisst es in dem gleichnamigen Song. «Niemand sieht wirklich klar / Fokus liegt auf Gefahr / Hysterie oder wahr?»
Hoffungsvolle Fluchtbewegungen
Aus dieser desolaten Situation führt Brigo mit seinem Rap immer wieder heraus, mit Zeilen, die seine Intention direkt zu erkennen geben:
«Ich hab versprochen, ich helf / Und bewässere deinen Verstand / So wie ein trockenes Feld / Spende Hoffnung statt Geld / In einer gottlosen Welt.»
Die gespendete Hoffnung drückt sich bisweilen in Fluchtbewegungen aus, die in ihrer Wiederkehr dem Album ebenfalls ihren Stempel aufdrücken. Das Ausbrechen aus der heutigen Realität stellt ein grundlegendes Motiv dar und führt nicht selten an Orte, die Glück verheissen, ob es nun der Traum ist oder das Meer.
«Das Leben ist oft wie ’ne Schiffahrt im Nebel», meint Brigo in dem Song «Dämonen». «Ich suche täglich nach Mitteln und Wegen / Einer der wenigen Künstler mit Seele / Versuch, euch mit Texten wie Münzen zu prägen». Der Optimismus dieser Zeilen klingt auf dem Album mehrfach und in unterschiedlicher Form an, unter anderem in einem gesampelten Zitat aus dem französischen Film «Hass». Darin schildert ein Jugendlicher die Geschichte eines Mannes, der vom 50. Stockwerk eines Hochhauses fällt. Während er in die Tiefe stürzt, wiederholt er zur Beruhigung: «Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut.»
Zukunftswelten und real gewordene Dystopien
Das Zitat steht bildhaft für die Grundhaltung von «White Russian», das die gesellschaftlichen Missstände jedoch nicht völlig ignoriert. Erwähnt werden unter anderem Szenarien wie die Versklavung der Menschheit. Es geht um Lügen aus den Röhren der Leitmedien, um Technik-Missbrauch und um «Klonkriege» zwischen grossen Konzernen. Zukunftswelten im Science-Fiction-Format treffen hier auf real gewordene Dystopien.
«Die Welt geht unter», rappt Brigo in dem Track «Flaschenpost», um gleich darauf wieder eine optimistische Haltung einzunehmen und seine unbändige Zuversicht zu demonstrieren:
«Aber ich schaffe es noch / Und werf in hochhaushohe Wellen / Schnell noch ’ne Flaschenpost / Mit diesem Text als Souvenir für die Nachwelt / Bevor es finster wird / Und alles tief in den Schlaf fällt.»
Texte mit poetischem Charme
«White Russian» bereitet pure Freude. Das Album wirkt erfrischend und belebend. Seine Kraft liegt in sphärischen Beats und zielsicheren Punchlines, die beweisen, dass Rap undogmatisch und trotzdem bestimmt sein kann. Brigo reimt, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Seine Texte entfalten einen poetischen Charme, der von intelligenten Aussagen und überraschenden Wendungen lebt. Die Lyrik ist nicht nur inspirierend, sondern schafft auch eine entspannte, beglückende Atmosphäre. Ihre Unbeschwertheit überträgt sich auf das Gemüt und lässt alle Sorgen vergessen.
Der Titel hat übrigens nichts mit dem Ukraine-Konflikt zu tun. Mit «White Russian» wird weder das hiesige Feindbild persifliert noch die Kriegshysterie metaphorisch als Alkoholrausch beschrieben. Die bekannte Cocktail-Bezeichnung steht vielmehr für eine Lebensweise, die dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung folgt. «Ich melk die Kuh so lange / Bis die Milch so schmeckt wie White Russian», heisst es in der Hook des Titelsongs. Mit dieser Einstellung dürfte auch der gegenwärtige Krisenalltag zu bewältigen sein. Zu melken gibt es genug, so viel lässt sich von Brigos Album lernen.
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