Obwohl sich die humanitäre Lage im Gaza-Streifen infolge des israelischen Vorgehens weiter verschlimmert, ist die deutsche Bundesregierung weiterhin gegen einen Waffenstillstand. Laut dem aussenpolitischen Informationsdienst German Foreign Policy (GFP) begründet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Nein weiter mit dem angeblichen «Selbstverteidigungsrecht Israels».
85 Prozent der Menschen im Gaza-Streifen mussten inzwischen Berichten zufolge ihre Wohnungen und Häuser verlassen und befinden sich auf der Flucht. Nach Schätzungen unabhängiger Experten sind nicht weniger als 40 Prozent der Wohnhäuser beschädigt oder zerstört, wie unter anderem die britische Zeitung The Guardian berichtet.
Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es 1,8 Millionen Binnenvertriebene im Gazastreifen, von denen viele in UN-Flüchtlingsunterkünften im Süden des Gebiets zusammengepfercht sind. Die Zahl der durch die israelischen Angriffe und Bombardements getöteten Palästinenser wird inzwischen mit mehr als 19‘000 angegeben. Zwei Drittel davon sind Frauen und Kinder, heisst es.
GFP verweist in einem aktuellen Bericht darauf, dass nach UN-Angaben die normale medizinische Versorgung im Gaza-Streifen nicht mehr gewährleisteten und den Verletzten nicht wie notwendig geholfen werden kann. Mindestens die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung leide an Hunger und Krankheiten, die sich durch die katastrophalen sanitären Verhältnisse ausbreiten.
Selbst der EU-Aussenbeauftragte Josep Borell hat kürzlich die Lage im Gaza-Streifen als «katastrophal» und «apokalyptisch» bezeichnet. Berichten nach sorgt der einsetzende Winterregen für Überschwemmungen, weshalb selbst Philippe Lazzarini, Chef der UN-Flüchtlingsagentur für Palästina (UNRWA), die Lage vor Ort als «Hölle auf Erden» beschrieben hat.
Das hält die Bundesregierung in Berlin nicht davon ab, sich weiter «klar gegen einen Waffenstillstand» auszusprechen, wie GFP berichtet. Kanzler Scholz habe das am Mittwoch wiederholt und dabei erneut auf das vermeintliche «Selbstverteidigungsrecht Israels» verwiesen. Auch Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) habe sich wieder ähnlich geäussert.
Eine Sprecherin des Bundeaussenministeriums habe zudem wahrheitswidrig behauptet, die palästinensische Organisation Hamas würde einen Waffenstillstand für weitere Angriffe ausnutzen. Die vereinbarte Waffenruhe im November wurde dagegen auch von der Hamas eingehalten, wie berichtet wurde.
Deutschland hatte sich bei der Resolution der UN-Generalversammlung für einen Waffenstillstand in Gaza am Dienstag enthalten. Eigentlich wollte Berlin mit Nein stimmen, so GFP, aber laut dem Grünen-Aussenpolitiker Jürgen Trittin sei das taktisch nicht möglich gewesen. Berlin habe zuvor die Forderung nach Freilassung der Geiseln in die UN-Resolution eingebracht.
GFP macht darauf aufmerksam, dass Berlin eine härtere Position als Washington vertritt. Die US-Regierung habe zwar mit Nein bei der UN angestimmt, aber kritisiere zunehmend die israelische Führung. US-Präsident Joseph Biden hat am Dienstag Israel gar «willkürliche Bombardements» vorgeworfen.
Aber das sei vor allem darin begründet, dass die USA befürchten, der Konflikt könne sich zu einem Krieg im Nahen Osten ausweiten. Washington wolle sich dort nicht mehr so stark wie früher einmischen und sich lieber auf den Konflikt mit China konzentrieren, so GFP.
Dagegen wollen dem Bericht nach die Europäische Union (EU) und Deutschland nach dem Kriegsende eine führende Rolle beim Wiederaufbau des Gaza-Streifens einnehmen. Das gelte auch für die Frage, wie der Nahe Osten neu geordnet werden sollte – wegen der «künftigen globalen Rolle der EU», wird EU-Diplomat Borell zitiert.
Doch die Palästinenser halten nicht viel von solchen Vorstellungen in Brüssel und Berlin. GFP verweist dazu auf eine aktuelle Studie zur politischen Stimmung unter den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland. Die hatten die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung und das Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) kürzlich durchgeführt.
Danach liegt die Unterstützung im Gaza-Streifen für die Hamas inzwischen bei 42 Prozent (38 Prozent im September) und bei 18 Prozent für die palästinensische Fatah, die im Westjordanland regiert (25 Prozent im September). Die Frage, welche politische Partei sie unterstützen, haben den Angaben nach die meisten Befragten mit der Hamas beantwortet (43 Prozent), gefolgt von der Fatah (17 Prozent).
«87 Prozent aller Palästinenser sind darüber hinaus der Ansicht, westliche Staaten wie die USA, Deutschland, Grossbritannien und Frankreich hätten, indem sie Israel faktisch grünes Licht für die Angriffe auf den Gazastreifen gegeben hätten, das humanitäre Völkerrecht missachtet», gibt GFP eines der Ergebnisse wieder. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) zitiert den Leiter des PSR, Khalil Shikaki:
«Der Westen hat jegliche moralische Autorität bei den Palästinensern verloren.»
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