Der aus Bayern stammende Musiker Martin Zels bezeichnet sich als einen Künstler, der sich in den Zwischenräumen bewegt. Der 56-Jährige hat bereits zwei Opern und zwei Romane geschrieben. Er arbeitete lange Zeit am Theater und veröffentlichte im letzten Jahr sein erstes Soloalbum «Hirschkäferzeit», das angesichts multipler Krisen von einer Sehnsucht nach einer heilenden Welt getragen wird. Nun hat Zels eine EP produziert und setzt sich darin nicht nur mit dem Fall Julian Assange auseinander, sondern auch mit zwei musikalischen Vorbildern. Im Interview mit Transition News spricht der Künstler über das Versagen der Diplomatie, über die gesellschaftliche Spaltung und darüber, wie sich diese überwinden liesse.
Transition News: Martin Zels, Sie haben unter dem Titel «Blaue Idee» eine neue EP mit vier Stücken herausgebracht. Sie bezeichnen sie als «meine Innere-Kinder-Lieder». Können Sie das erläutern?
Martin Zels: In der psychologischen, der systemischen, ja allgemein der therapeutischen Praxis wird viel mit diesem Begriff gearbeitet. Wir haben alle ein Leben lang ein «Inneres Kind» in uns, das uns begleitet, seit wir ein Kind waren. Und es trägt unseren Namen. Oft stecken Menschen auch einfach in einem für sie problematischen Stadium ihres inneren Wachstums fest.
Da stehen sie also in uns und warten darauf, dass sich jemand um sie kümmert. Ihnen zum Beispiel Lieder singt. Und sie ab und an tröstet oder wenigstens versucht, ihnen das Leben zu «erklären», so, dass es irgendwann doch weiter gehen kann und die Dinge wieder ins Fliessen kommen. Ich singe diese Lieder im Grunde dem kleinen Martin in mir. Ich spüre, dass es ihm guttut; dass sie ihm ein Trost sind. Und vielleicht geht es da meinen Zuhörern ähnlich? Im Drama auf der Theaterbühne sind wir immer dann am meisten berührt, wenn die Schauspieler während der Probenarbeit ihr eigenes Drama in sich gefunden haben und nun in ihren Text legen können.
Wenn wir schon von Kindheit sprechen. Ein Song trägt den Titel «Plärr, Bua». Das ist bayrischer Dialekt und bedeutet so viel wie «brülle los, Bub». Mit Bub ist Julian Assange gemeint. Warum haben Sie ihm ein Lied gewidmet? Und warum ist Assange eigentlich ein «Bub»?
Mit «Bub» ist jeder Junge, aber auch jedes Mädel gemeint, das sich in uns drin oft fühlt wie in einem Gefängnis. Abgeschnitten von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder kurz: Liebe. Ich wollte Julian Assange ein tröstendes Lied schreiben, bis ich merkte, dass ich dieses Lied für jede und jeden von uns singen könnte. Zugegeben, nicht wir sitzen im Gefängnis in Belmarsh, sondern er. Und was ist, wenn ich eine Umdrehung weiter schaue? Da sieht es dann schon anders aus mit unseren Nöten. Den inneren vor allem, nicht? Julian Assange braucht meine Lieder nicht. Aber der «Bub» in ihm braucht Liebe. Und Aufmerksamkeit. Dringend. So wie wir alle. «Plärren» heisst im bayerischen wie im österreichischen Dialekt auch «Weinen».
Sie haben gerade gesagt, dass Assange mehr Aufmerksamkeit braucht. Was vermissen Sie in der Auseinandersetzung mit diesem brisanten Fall? An welchen Stellschrauben muss also noch gedreht werden, um Assange zu helfen?
Ich finde vor allem die Verlogenheit, mit der solche «Fälle» wie der von Assange öffentlich abgefrühstückt werden, geradezu unerträglich. Und wieder: Hören wir einen Song von Wecker oder von Niedecken zu dem Thema? Aber zur Frage zurück. Wenn ich Verlogenheit sage, dann meine ich vor allem die mangelnde Bereitschaft, wirklich hinzusehen. Auf das Verbrechen in seinem ganzen Umfang zu schauen, das da vor unser aller Augen an einem Menschen wie nach Drehbuch verübt wird. Dieses Verbrechen wird noch perfider, wenn man wahrnimmt, dass viele der wackeren Menschen, die für seine Befreiung eintreten, für mich manchmal so wirken, als glaubten sie tatsächlich, es sei damit getan, diesen gebrochenen Menschen auf freien Fuss zu setzen.
Aber was dann? Ein Teil von Julian Assange wird für immer in seinem Kerker bleiben. Wenn nicht Heilung geschehen darf. Wie soll diese Seele Frieden finden, wenn die halbe Welt weiter glaubt, dass es sich hier um einen Krieg handelt, der gewonnen werden muss? Wir tragen den Krieg hunderter Jahre in uns. Und er tobt bisher beinahe unbehelligt in uns weiter. Frieden wird erst dann möglich, wenn dieser Schmerz gesehen wird. Und wenn tief unten in den Verliesen unserer Seele Frieden geschaffen wird. Erst dann wird es Erlösung geben. Das ist der Prozess, um den es schon lange bei uns allen gehen müsste.
Cover EP «Blaue Idee», Martin Zels
An welchen Stellschrauben muss also noch gedreht werden, um Assange zu helfen?
Die Doppelmoral auf dem Parkett der Diplomatie muss aufhören. Wahrhaftigkeit und bedingungsloses Ehrlichsein müssten salonfähig werden. Julian Assange wird als eine kleine, aber nützliche «Figur» betrachtet. Das Ganze ist doch nur ein Schachspiel in diesen Kreisen. Zumindest erlebe ich das so, wenn ich mir ansehe, wie nebensächlich sein Leid verhandelt wird.
Assanges Schicksal ist zugleich das Schicksal der Zivilgesellschaft. Er steht für Pressefreiheit. Wenn Assange verurteilt wird, fällt auch sie. Allerdings ist es bereits jetzt schlecht um die Pressefreiheit bestellt. Gleiches gilt für die Kunstfreiheit. Welche Erfahrungen machen Sie derzeit mit ihr?
Kunst war noch nie wirklich frei. Und sie wird es erst werden, wenn wir Menschen verstanden haben, dass sie ein Lebensmittel ist. Ein Elixier, ohne das wir keine Menschen wären. Ich möchte nicht unter den Tisch kehren, dass es auf der Welt noch bedeutend unfreiere Zustände gibt, was die Freiheit des Geistes betrifft, als den sogenannten «Wertewesten».
Schwer zu ertragen ist die Art, wie Kunst immer öfter, immer schneller, immer weitreichender zu einem Politikum heruntergerechnet wird. Und dabei zensieren sich die meisten Arrivierteren unter uns, die Hofkünstler, schon im Schaffensprozess recht freiwillig selber. Man will ja auf der richtigen Seite stehen, nicht? Was wäre, wenn Applaus von der falschen Seite käme? Undenkbar, nicht wahr? Ein schleichender, spaltender Brot-und-Spiele-Prozess, der den Sachbearbeitern und Kontrolleuren hinter den Schreibtischen nur recht sein kann. Hier sehe ich den grössten Missstand.
Was ich derzeit aber regelrecht betrauere, ist das zunehmende Desinteresse der Leute an freier, unverstellter Kunst. Und es wundert mich gleichzeitig auch kaum, wenn ich mir ansehe, wie beliebig, wie vollverschädelt und banal sich öffentlich abgesegnete Kunstkreise heute präsentieren, oder besser: ihrer selbst versichern. Das Nackte scheint dabei spannender als das Pure, Wahrhaftige zu sein. Dabei könnte beides so schön zusammenspielen.
In «Plärr, Bua» gibt es einige Zeilen in Französisch. Ansonsten singen Sie im bayerischen Dialekt – so wie in allen anderen Liedern. Was hat es damit zu tun? Warum nicht in Hochdeutsch?
«Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», auf Französisch «liberté, egalité, fraternité» – die Schlagworte der französischen Revolution. Das französisch anmutende «Assange»? Ich weiss nicht einmal, ob der Australier vielleicht französische oder kanadische Vorfahren hat. Aber ich musste beim Klang seines Namens an die Kerker der Pariser Bastille um 1789 denken. Und immer dann funktioniert mein Kunstherz gerne wie eine Lunte, die brennt. Auch auf meiner ersten Platte «Hirschkäferzeit» gibt es französische Passagen.
Ich mag diese Sprache und ich liebe Frankreich! So, wie ich die Sprache meiner Heimat Bayern liebe, die auch den Österreichern vertraut klingt. Ich glaube, in einem Song geht es vor allem um den Klang der Sprache und die Haltung, die die Worte ausdrücken wollen. Und da sind wir nicht weit weg von Konstantin Wecker und Wolfgang Niedecken, deren Texte, deren Sprachklang heute weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus berühmt sind.
Nun gibt es ausser «Plärr, Bua» noch drei weitere Songs auf der EP. Worum geht es in ihnen?
«Seiltanz» beschreibt die innere Leere so vieler Menschen heute. Und ich kenne das alles sehr gut auch aus meinem Leben. Da stehen wir nun, hoch oben auf einem Seil. Und es scheint weder vor noch zurück zu gehen!
«Nach Akaba» ist ein Bild aus der Welt der Freibeuter und Seefahrer. Die Gedanken eines ehemaligen Schiffsjungen, der seine Lehrmeister einmal tief verehrt hat – und sie heute, wo wir grossen Gefechten gegenüberstehen, schmerzlich in den eigenen Reihen vermisst.
«Blaue Idee» ist ein Song, den ich von einem Besuch in Portugal mitgebracht habe, wo meine Tochter und mein Schwiegersohn den Frühling verbrachten. Auch der Versuch eines Vaters, seiner Tochter ein Bild zu schenken, das ihr seine nicht immer leicht in Worte zu fassende Liebe zeigt – jetzt wo sie selber Mutter wird.
Bleiben wir doch noch ein bisschen bei «Nach Akaba». Es ist ein Lied, das sie den bereits angesprochenen Künstlern Konstantin Wecker und Wolfgang Niedecken gewidmet haben. Inwiefern handelt es sich dabei um ein inneres Kinderlied?
Ich habe es schon angedeutet: Der Schiffsjunge war ich. Und in mir steht der junge Kerl noch oft wie betröpelt da und fragt mich, was los ist. Wo sind die beiden denn hin? Und all die anderen? Die waren doch mal wichtig für dieses Land, für unsere Kultur, für das Leben in unserer Zeit. Und doch: Wir sind Brüder. Sind es immer gewesen. Wer bin ich, dem Schiffsjungen nicht auch von Versöhnlichkeit und dem grösseren Bild zu erzählen?
Können Sie das bitte etwas erläutern? Inwiefern waren Wecker und Niedecken wichtig für dieses Land? Wo sehen Sie ihre Verdienste?
Sie haben neben vielen anderen einer ganzen Generation das Gefühl gegeben, dass es Sinn hat, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, dass es Spass macht, sich mit grossartiger Poesie zu beschäftigen, und dass das in einem eher nüchternen Land wie dem unseren trotzdem mit richtig guter Rockmusik zusammengeht, oder, wie bei Wecker, mit feinsinnigster klassischer Instrumentierung. Für mich waren die Texte Weckers und Niedeckens, vielleicht gerade wegen ihrer Dialektorientierung, der purste und ehrlichste Ausdruck von Lebenshunger, den dieses Land zu bieten hatte. Für mich. Der Kreis der Frauen und Männer, die dieses Land auf diese Weise reich gemacht haben, ist grösser gewesen, viel grösser. Das meiste davon liegt heute in Scherben vor uns.
Was genau kritisieren Sie an den beiden?
Das Schweigen im Fall von Wecker. Und ihre für mich unerträgliche Polemik gegen unser angebliches Abdriften nach rechts. Nur weil wir einer staatlich verordneten Linksideologie, die für mich in kaum einer Weise mit meinem alten «Links» zu tun hat, nicht in den sicheren Abgrund ihrer Betonschädeligkeit folgen wollen. Selbstbeweihräucherung auf dem künstlerischen Sterbebett ist das für mich. Ich verweigere die Anteilnahme. Aber ich will die Menschen dahinter sehen. Und ich verdanke beiden das Überleben des jungen Kerls, der ich einmal war.
Sowohl Wecker als auch Niedecken galten früher als sozialkritische Musiker. Heute scheinen sie eher die Regierungsnarrative zu unterstützen. Das gilt heute für fast alle etablierten Künstler von Rang. Womit erklären Sie sich diesen allgemeinen Konformismus in der Kulturbranche?
Ich sagte das ja schon im Ansatz: Die alten Säcke feiern einen Lauterbach, als sei er ein alter Weggefährte. Vielleicht hat das tatsächlich mit dem Alter zu tun? Oder sind Bundesverdienstkreuze und andere Orden hier etwas anderes als eine glitzernde, vor Selbstbeweihräucherung triefende Ruhigstellung? Ich glaube, dass die alte, saturierte Generation auch tatsächlich ein wenig müde und immer weniger weitblickend für die doch immer perfideren Schachzüge eines tiefen Staates geworden ist. Einverleibung kann sich ja auch anfühlen wie ein Schlaflied. Und jetzt pennt und schnarcht der ganze Laden in den Armen seiner öffentlich-rechtlichen Hüter.
Wecker und Niedecken könnten tatsächlich ganz nackte Angst um ihre Gesundheit gehabt haben, als man uns erklärte, dass wir bald alle sterben würden. Ich kann mir die Paranoia eines Grönemeyer nur mit einer recht divenhaften Hypochondrie erklären. «Wahrnehmung» ist sicher das unpolemischste Wort, das mir hier einfällt: Ich glaube, die arrivierten Künstler im deutschsprachigen Raum haben in ihren Königslogen und Villen einfach einen anderen Blick auf die Fragen der Zeit entwickelt. Ich glaube, auch dass diese Leute richtig viel arbeiten. Dem alten Erfolg immer wieder ein neues Lebenszeichen hinzuzufügen, ist schwere Arbeit. Und die Plätze beharrlich zu besetzen, die schon lange frei für Jüngere hätten werden sollen, das ist auch richtig anstrengend. Sich so tagtäglich selber zu verwalten, verstellt zunehmend den Blick, glaube ich.
Und die Jungen? Schau, die kenne ich selber kaum. Und sie melden sich auch nicht für mich hörbar zu Wort. In meiner Zeit am Theater habe ich genau diese Erfahrung gemacht: Die Alten räumen nicht die Sessel, die die Jungen irgendwie sowieso nicht interessieren. Und beide stehen verwundert voreinander, und haben keine Ahnung, wie sie jetzt zusammen Kunst gestalten sollen.
Haben Sie versucht, Kontakt zu den beiden Musikern aufzubauen?
Ja, das habe ich. Beide waren für mich unerreichbar. Zumindest Wecker könnte meine Leserbriefe irgendwo erhascht haben, aber Reaktion habe ich keine wahrgenommen.
Kommen wir doch noch ganz kurz auf den Song «Seiltanz» zu sprechen. Sie sagten, er beschreibe die innere Leere so vieler Menschen heute. Worin sehen Sie den Hauptgrund dafür?
In einer Mischung aus mangelnder Zeit, zunehmender Überflutung mit Informationen und abnehmender Liebesfähigkeit. Zu allem Überfluss kommt dann auch noch die ganze Misere mit den Rollenbildern dazu. Die Menschen wissen immer seltener, wer sie sind. Stattdessen suchen sie nur noch nach etwas, das sie sein wollen könnten. Dieser Cocktail haut doch auch die Lebendigsten noch aus den Latschen.
Wie lässt sich dieser Zustand überwinden? Wie lässt sich diese Leere also füllen?
Echte Zuwendung. Sich selbst gegenüber. Fürsorge. Unseren inneren Kindern zuliebe. Dafür braucht es Mut und noch mehr Liebe. Denn sich selber so anzuschauen, wie man ist, daran haben wir doch als Möglichkeit nie gedacht, so sind wir doch in den meisten Fällen gar nicht gross geworden. Das sind echte Wege und wahre Bilder. Und hier glaube ich auch, dass wir eine gewisse initiierende Widerständigkeit brauchen.
Meine Richtung soll nicht in erster Linie «gegen», sondern «für» etwas sein. Für die Zeit, die ich mir nehme. Für den Schmerz, den ich mir wirklich und ehrlich anschaue. Damit er zu Liebe werde und nicht weiter zu unendlicher Wut und den Kreisläufen, die wir in einem Leben doch gar nicht mehr bändigen können. Für das Leben, das uns jeden Tag so einzigartig zeigen möchte, wie grossartig wir Menschen doch sind. Und wie wunderbar es ist, sich diese Süsse zu bewahren.
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