Die US-Führung im Weißen Haus unter Präsident Joseph Biden hat ein «offensichtliches Desinteresse (…) an den schwierigsten außenpolitischen Themen». Das schreibt der investigative Journalist Seymour Hersh in seinem am Dienstag veröffentlichten aktuellen Text. Darin geht es um die Ignoranz der herrschenden Politik gegenüber den Analysen der US-Geheim- und Nachrichtendienste.
Hersh verweist dabei auf die jüngsten Entscheidungen im US-Kongress über Auslandshilfe von 95 Milliarden US-Dollar. Damit werde unter anderem der «Krieg in der Ukraine gegen Russland» und der Krieg Israels gegen die Hamas im Gaza-Streifen weiter unterstützt. Das sei von der Biden-Administration wie auch von den etablierten US-Medien gefeiert worden.
Die Zeitung New York Times hat danach klar benannt, worum es der US-Politik geht: Um die Frage, ob die USA «weiterhin eine führende Rolle bei der Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung und der weltweiten Verbreitung ihrer Werte spielen werden». Die Nachrichtenagentur AP hat laut Hersh von einem «dringlichen Opfer» geschrieben, da die Verbündeten der USA «von Kriegen und Bedrohungen vom europäischen Festland über den Nahen Osten bis zum Indopazifik heimgesucht werden».
Der Journalist schreibt, dass die Freude in der US-Politik und die mediale Begeisterung für jene, die sich an die vergangenen Kriege erinnern, «mehr als nur ein Beunruhigen» seien.
«Milliarden US-amerikanischer Steuergelder fließen in einen Krieg in der Ukraine, der nach Ansicht vieler nicht zu gewinnen ist und vielleicht leicht beigelegt werden könnte, und weitere Milliarden fließen in den Krieg im Gazastreifen, der Biden Tausende von Stimmen in umstrittenen Bundesstaaten kosten könnte, in denen es heftigen Widerstand gegen die laufenden israelischen Angriffe gibt.»
Hersh macht darauf aufmerksam, dass das entsprechende Gesetz die US-Regierung auffordert, über die entsprechenden Aktivitäten Bericht zu erstatten. Doch das werde «fast immer ignoriert», wenn das fällig ist. Die Antworten kämen meist Monate verspätet von untergeordneten Beamten aus dem Außen- und dem Kriegsministerium.
Geheimdienstanalyse nicht gefragt
Der Journalist berichtet, dass angesichts dessen in US-Geheimdienstkreisen an die früheren Einschätzungen der US-Geheimdienste zu wichtigen Fragen und Problemen, die National Intelligence Estimates (NIE), erinnert werde. Diese Analysen seien auf Anfrage des jeweiligen US-Präsidenten und seiner hochrangigen politischen Mitarbeiter erstellt worden. Zuständig seien dafür Geheimdienstmitarbeiter im obersten US-Geheimdienstbüro, dem National Intelligence Council.
Es handele sich um Experten auf den jeweiligen Gebieten, die zu politisch unabhängigen Einschätzungen verpflichtet seien. Laut Hersh hat die derzeitige Administration unter Biden mit Außenminister Antony Blinken und Sicherheitsberater Jake Sullivan seit Amtsantritt 2021 noch keine solche Analyse zum Beispiel zur Ukraine oder zu Gaza in Auftrag gegeben.
Ein Geheimdienstmitarbeiter habe das «offensichtliche Desinteresse des Weißen Hauses» so kommentiert:
«Die Biden-Regierung irrt in der Wildnis umher.»
Die öffentlich vom Präsidenten verkündeten Ziele vom Sieg in der Ukraine und zum Krieg in Gaza über die Konfrontation mit China bis zur Wiederherstellung der US-Wirtschaft seien nur Allgemeinplätze. Zu jedem dieser Themen fehle eine NIE, während die Geheimdienstexperten über Ufos und die Gleichberechtigung sowie Vielfalt in der Gesellschaft schrieben.
Hersh erinnert an eine Studie von 2009, wonach die Geheimdiensteinschätzungen sich mit dem wahrscheinlichen Verlauf von Ereignissen und den Auswirkungen für die US-Politik beschäftigten. Er selbst habe bei entsprechenden Recherchen erfahren, dass die Analysen von Experten außerhalb der Geheimdienste überprüft wurden, bevor sie an die Regierung gingen.
Unwissen über Realität
Derzeit würden beispielsweise CIA-Chef William Burns ebenso wie US-Medien die palästinensische Hamas für fehlende Ergebnisse bei den Verhandlungen mit Israel zur Geiselfreilassung verantwortlich machen. Dagegen werde die israelische Seite als «großzügig» dargestellt. Dem widersprecht laut Hersh ein US-Geheimdienstmitarbeiter.
«Niemand im Weißen Haus oder in der Verwaltung hat die Nachrichtendienste um Rat gefragt.»
Wäre das geschehen, wäre darauf hingewiesen worden, dass die Aussicht auf Einigung gering sei – aufgrund der israelischen Politik. Die rücke von ihrem Ziel nicht ab, die Hamas zu vernichten. Der Journalist zitiert seinen Informanten:
«Wenn das letzte Mitglied der Hamas eine Kugel abbekommen hat, wird es einen Waffenstillstand geben. Sie werden nach Rafah gehen. End of story.»
Die israelische Führung habe Washington mitgeteilt, dass, wenn Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zurücktrete, sich nichts ändere. Ein anderes Mitglied des derzeitigen Kriegskabinetts werde seinen Platz einnehmen und den Feldzug gegen die Hamas fortsetzen.
Der US-Geheimdienstbeamte rechne damit, dass sich auch an der US-Politik nichts ändere: «Die Ereignisse vor Ort und die massive finanzielle Unterstützung sind von der Politik abgekoppelt.»
Ein gutes Geschäft
Auf die Hintergründe der nun doch beschlossenen US-Milliarden-Hilfe für die Ukraine hat unlängst der Journalist Thomas Röper aufmerksam gemacht. Er berichtete, dass die US-Gelder als Kredite an Kiew gehen, also zurückgezahlt werden müssen.
«Die zweite Besonderheit der beschlossenen Hilfen ist, dass der Löwenanteil davon nicht an die Ukraine geht, sondern direkt an die US-Rüstungsindustrie. Und die soll mit dem Geld nicht etwa Waffen für die Ukraine produzieren, sondern die Arsenale der US-Armee auffüllen, die durch die früheren Ukraine-Hilfen sehr geleert wurden.»
Mit den neuen Milliarden US-Dollar würden praktisch die bisherigen Waffenlieferungen an Kiew finanziert. Die Rückzahlung der Kredite an Kiew werde dann die EU übernehmen müssen, da der ukrainische Staat pleite sei.
«Die von den westlichen Medien so sehr gefeierte ‹Ukraine-Hilfe der USA› in Höhe von 61 Milliarden Dollar ist also ein gutes Geschäft für die USA. Bezahlen werden das entweder die EU oder Russland, oder beide, und sterben werden dafür die Ukrainer.»
Auf das «gute Geschäft» hatte selbst der Kiewer Außenminister Dmytro Kuleba hingewiesen: Während des Weltwirtschaftsforums (WEF) in diesem Jahr in Davos erklärte er gegenüber dem Sender Bloomberg, ein großer Teil der Gelder bleibe in den USA. Der gehe an die US-Rüstungsindustrie, die Waffen für die Ukraine produziere.
Zugleich würde das Leben der US-Soldaten geschützt, da die Ukrainer an ihrer Stelle gegen Russland kämpfen. Kuleba sprach vom «besten Geschäft auf dem globalen Markt der Sicherheit»:
«Ihr liefert die Waffen und gebt uns das Geld, und wir erledigen den Job.»
Das taucht bei Seymour Hersh nicht auf. Ob es in den von ihm vermissten Einschätzungen der US-Geheimdiensten zu lesen wäre, ist fraglich. Sie wissen Berichten zufolge zumindest, was mit den westlichen Waffen in der Ukraine angerichtet wird und unterstützen die Kiewer Truppen.
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare