Die Schweizer Kantonsvertreter, der Ständerat, hat kürzlich einen knappen Entscheid bezüglich der «Völkerrechtlichen Grundlagen für Reparationszahlung an die Ukraine» getroffen. Das verärgerte das russische Aussenministerium und führte zur Einbestellung der Schweizer Botschafterin in Moskau, wie zum Beispiel vorgestern die Weltwoche berichtete.
Zur Diskussion stand die Möglichkeit, russisches Staatsvermögen zugunsten der Ukraine zu beschlagnahmen, was von Russland als Diebstahl und Verstoss gegen die Neutralität der Schweiz betrachtet wird. Auch international haben die Medien darüber berichtet.
Es ist klarzustellen, dass es nicht um Gelder von russischen Oligarchen, sondern um das russische Staatsvermögen insgesamt geht. Die Entscheidung des Ständerates wird von Russland als feindselig angesehen, und es wurden Warnungen vor möglichen Konsequenzen ausgesprochen, sollten solche Massnahmen umgesetzt werden.
Die Debatte im Rat zeigte eine Spaltung innerhalb der Schweizer Politik. Während zum Beispiel Daniel Jositsch (SPS Zürich) oder Beat Rieder (Mitte Wallis) argumentieren, dass solche Massnahmen den Ruf des Finanzplatzes und die Neutralität der Schweiz beschädigen, vertreten andere die Ansicht, dass die Schweiz sich moralisch und politisch für die Ukraine einsetzen sollte.
Die Kritiker betonten, solche Vorstösse würden nicht nur die Neutralität der Schweiz in Frage stellen, sondern könnten dem Land auch die Möglichkeit nehmen, auf diplomatischem Wege bei einer Konfliktlösung zu helfen, so wie das die Schweiz beim Minsk-Prozess getan hat. Die Unterstützung des Aussenministers, Bundesrat Ignazio Cassis (FDP, Tessin) für diesen Vorstoss wird ebenfalls kritisiert, da die Schweiz von Russland kaum mehr als Vermittler akzeptiert werden wird.
Der Vorstoss muss nun vom Nationalrat behandelt werden. Falls es eine Differenz zum Erstrat gibt, muss eine Differenzbereinigung das weitere Vorgehen klären. Es ist also alles andere als klar, ob der Vorstoss Gesetzeskraft erhält.
Wie ist diese Frage einzuschätzen?
Die Diskussion, wie sich ein neutraler Staat bei einem Krieg in Bezug auf Sanktionen verhalten soll, ist etwa so alt wie die Neutralität selbst. In Bezug auf die Schweiz konkret etwa 500-jährig. Anfänglich verhielt sich die Schweiz opportunistisch. Unser Land profitierte zum Beispiel in erheblichem Masse vom 30-jährigen Krieg, aus dem es sich heraushalten konnte und vergleichsweise gut lebte. Es ist deshalb nicht zufällig, dass die Bauernaufstände nachher ausbrachen, als diese Opportunitäten entfielen.
Die Schweiz wurde dann allerdings in die napoleonischen Kriege hineingezogen, aber der Wiener Kongress legte bei der nachfolgenden Neuordnung fest, dass die Neutralität der Schweiz im Interesse Europas sei.
In den beiden Weltkriegen gelang es dann wiederum, das Land aus den Kriegswirren herauszuhalten. Als Konzept war die Neutralität aber international immer dann unbeliebt, wenn ein Kräftemessen drohte oder im Gang war und dieses nicht nur mit machtpolitischen Interessen begründet wurde, sondern auch moralisch verbrämt war.
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg begann dann die Kodifizierung des Völkerrechts. In diesem Zusammenhang erhielt auch die Neutralität ihren Platz. Neutrale Staaten haben daher gewisse Rechte und Pflichten. Sie sind gehalten,
- keinem Verteidigungsbündnis beizutreten (falls sie aber angegriffen werden, dürfen sie Verteidigungsabsprachen treffen und
- keine Konfliktpartei einseitig mit Rüstungsgütern zu unterstützen.
Daraus folgt, dass sie
- keine fremden Truppen auf ihrem Territorium dulden dürfen und sich
- im Notfall verteidigen müssen.
Deshalb müssen Überflüge von fremden Kampfflugzeugen zum Beispiel immer genehmigt werden. Und diese Genehmigung ist keine Formsache, wird manchmal nicht erteilt (Beispiel: Bombenangriffe auf Serbien) oder von Bedingungen abhängig gemacht.
Die Schweiz dürfte also theoretisch Leopard Panzer (die sie zur Genüge hat) an die Ukraine liefern, dann müsste sie aber auch ein entsprechendes russisches Ansinnen akzeptieren. Wenn die Schweiz Rüstungsgüter exportiert, steht in den Verträgen deshalb immer ein Vermerk, wonach der Weiterexport einer Bewilligung der Schweiz bedürfe. Diese wird nur dann erteilt, wenn der Abnehmerstaat nicht kriegsführend ist. Die entsprechenden Schweizer Gesetze stützen sich auf das Neutralitätsrecht, sind jüngst verschärft worden und lassen wenig Interpretationsspielraum zu. Entsprechende Gesuche, vor allem von deutscher Seite sind deshalb seit Ausbruch des Ukraine-Krieges stets abgelehnt worden, was mit Unverständnis quittiert wurde.
Der kürzlich organisierte Ringtausch von Leopard Panzern war wohl neutralitätsrechtlich gerade noch unproblematisch. Die Panzer gehörten nicht der Schweizer Armee selber, sondern dem Schweizer Rüstungskonzern RUAG und befanden sich in Italien. RUAG lieferte ins Ausland (mit dem entsprechenden Exportvorbehalt), damit dort Bestände aufgefüllt werden konnten von Fahrzeugen, die an die Ukraine gegangen waren.
Das Neutralitätsrecht setzt also einige Schranken, lässt aber ziemlich viel Umsetzungsspielraum. Sehr wichtig ist deshalb die Neutralitätspolitik. Dazu gehören Sanktionen. Ein neutraler Staat ist theoretisch frei, wie er vorgehen will. Praktisch stellen sich aber immer Dilemmata und kaum je gibt es einen klaren Weg. Die Frage ist meist, wie stark sich ein neutraler Staat auf eine bestimmte Seite ziehen lassen will und welche Signale er aussenden will.
Insbesondere in Bezug auf die Sanktionen erhalten solche Überlegungen politisches Gewicht. Bei den Sanktionen gegen Südafrika und Rhodesien hat sich die Schweiz damals am sogenannten «courant normal» orientiert, das heisst, unser Land hat durch den Westen sanktionierte Transaktionen bis zu einem Niveau zugelassen, das vor dem Verhängen der Sanktionen normal war. Diese Praxis hatte schon während des Zweiten Weltkriegs für Ärger gesorgt und war auch in den Achtzigern hoch umstritten. Deshalb ging man dazu über, Sanktionen, die von der UNO genehmigt wurden, in jedem Fall mitzutragen.
Das wurde auch in Bezug auf den Russland-Ukrainekrieg beibehalten. Zusätzlich wurden ab 2022 die meisten (aber nicht alle) Sanktionen der EU mitvollzogen. Die Begründung dazu besteht darin, dass die Schweiz andernfalls zur Drehscheibe für Umgehungsgeschäfte würde. Dass aber auch das nicht unproblematisch ist, hat kürzlich der ehemalige Präsident des EFTA-Gerichtshofes, der Schweizer Völkerrechtler Carl Baudenbacher in einem viel beachteten Rundumschlag eingängig begründet.
Sollte der Vorstoss betreffend der Beschlagnahmung von russischem Staatseigentum Rechtskraft erlangen, würde das jedoch die Schweiz eine Stufe weiter auf die westliche Seite ziehen.
Die Politik würde dann derjenigen ähneln, die der damalige Schweizer Aussenminister Giuseppe Motta – auch ein Tessiner – während seiner langen Amtszeit von 1910 bis 1940 gegenüber der Sowjetunion verfolgte. Sein Nachfolgen Marcel Pilet-Golaz (FDP, Waadt) hatte bei der Korrektur dieser auf moralisch-antikommunistischen Prinzipien bauenden Politik seines Vorgängers schwer zu kämpfen, als sich die Sowjetunion nach dem Überfall Deutschlands plötzlich wieder auf der richtigen Seite der Geschichte fand. Schon diese historische Analogie zeigt, dass sich die Schweiz heutzutage in Bezug auf das Sanktionsregime gegenüber Russland eindeutig verrannt hat.
Wie sich die Schweiz in Zukunft positioniert, wird sich zeigen. Es ist durchaus denkbar, dass sich wieder eine Korrektur der gegenwärtigen Politik ergibt. Denn heute testen die «Eidgenossen» die Grenzen aus, wie weit ein neutrales Land in Bezug auf die Übernahme von Sanktionen gehen kann. Ein Initiativkomitee sammelt Unterschriften für die sogenannte Souveränitätsinitiative. Würde dieses Projekt Gesetzeskraft erlangen, wären der Schweiz Sanktionen nur dann gestattet, wenn diese von der UNO getragen würden.
Das Thema bleibt also aktuell. Fortsetzung folgt.
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