«Wir haben der Ukraine abscheuliches Leid auferlegt, indem wir die Ukraine in der Illusion gehalten haben, dass der Westen die industriellen Mittel hat, den Krieg zu unterstützen.» Das sagt der französische Politikwissenschaftler Emmanuel Todd in einem Interview mit dem französischen Sender BFMTV, das am Donnerstag veröffentlicht wurde.
Todd spricht darin über sein neues Buch «La défaite de l’Occident» («Der Untergang des Westens») und stellt fest, dass die USA in der Ukraine in eine selbstgestellte Falle geraten sind. Diese sei «von ihnen selbst und vom ukrainischen Nationalismus gestellt» worden. Grundlage dafür sei die «Illusion, dass die russischen Fähigkeiten verschwinden würden», sowie ein «Unbewusstsein für die Zerstörung des westlichen und speziell des amerikanischen Industrieapparats».
Der Politologe hatte im 20. Jahrhundert schon für Aufsehen gesorgt, als er 1976 als einer der Ersten den Untergang der Sowjetunion vorhergesagt hat. Das begründete er damals vor allem mit demografischen Fakten. Auf solche stützt er sich auch heute bei seiner Prognose vom Untergang des Westens und vor allem der USA.
Sowjetischen Zusammenbruch nicht verstanden
Mit dem Blick auf den Krieg in der Ukraine sagt er in dem Interview «als leidenschaftsloser Historiker»: Er nehme «ein völlig stabiles Russland» wahr, «das an seinen Grenzen tatsächlich in einer defensiven Position ist». Dagegen sei der Westen «auf einem etwas bizarren aggressiven Kurs gefangen». Aus seiner Sicht wurde die Bedeutung des Zusammenbruchs der Sowjetunion «nicht wirklich verstanden».
Bereits damals sei nicht gesehen worden, dass sich die USA selbst in einem industriellen Niedergang befänden, der 1965 begonnen habe, so Todd. «Aber der Westen war selbst in einer sehr schlechten Verfassung, sein Zentrum wurde immer schwächer», stellt er fest. Aber nach dem sowjetischen Untergang 1990/91 hätten alle geglaubt, dass dies ein Sieg des Kapitalismus sei.
So sei es «zu diesem aussergewöhnlichen Phänomen einer Ost-Expansion, die Russland schliesslich in seinem Raum provozierte», gekommen – durch eine westliche Welt, «der es selbst nicht gut ging». Der Historiker und Soziologe sagt, dass der Westen im Konflikt um die Ukraine mit Russland hätte verhandeln sollen. Und: «Natürlich hätte man Russland in den Westen integrieren sollen.»
Todd sagt von sich, dass er durch die «Annales-Schule» ausgebildet wurde. Diese Denkrichtung in der französischen Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts hat sich mit Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, ebenso mit Daten und Fakten. Sie hat sich zudem an langfristigen Entwicklungen orientiert.
«Ich glaube überhaupt nicht an die Bedeutung von zentralen Politikern in der Geschichte. Ich sehe Kräfte, die von sehr langer Dauer sind und die man beobachten, analysieren und quantifizieren muss. Ohne sich zu empören.»
Mit diesem Blick analysiert er den Untergang der USA und deren industriellen Zusammenbruch. Den hatte er bereits in dem Buch «Weltmacht USA: Ein Nachruf» (auf deutsch 2003 erschienen) beschrieben. In dem aktuellen Interview fordert er dazu auf, sich mit den Wurzeln der Probleme zu beschäftigen, nicht immer wieder mit den Erscheinungen an der Oberfläche.
Zusammenbruch des Protestantismus
Dazu zählt er den Niedergang des Protestantismus im Westen, dessen Aufstieg im Mittelalter «die Grundlage des Aufstiegs des Westens» gewesen sei. Todd verweist dabei unter anderem auf den Soziologen Max Weber. «Ich sage, der Untergang des Westens ist der Zusammenbruch des Protestantismus.»
Dieser Zusammenbruch sorge gleichfalls dafür, dass der mit dem Protestantismus verbundene «härteste Rassismus» in den USA verschwinde. Zugleich sinke das Bildungsniveau und es sei in allen Industriestaaten eine Schwäche zu beobachten, «sich zu organisieren und ein Kollektiv zu bilden».
Das macht Todd ebenfalls für Russland aus, auch wenn dort eine Entwicklung wie in Deutschland durch gemeinschaftliche und autoritäre Familientraditionen abgeschwächt würde. Er spricht von der Unfähigkeit des Westens und der Russen, einander zu verstehen. Dieses Missverständnis beruhe auf der «falschen oder nicht vorhandenen Sicht des Westens auf Russland, einer Verteufelung Putins».
Das Verschwinden der Religion ist seiner Aussage nach «nichts, was ich bejubeln oder bedauern würde, es ist eine Tatsache». Sie versetze die Gesellschaft in eine Art «Zombie-Zustand», in einen «Null-Zustand, in dem es nichts mehr gibt ausser einer Angst». Diese bringe den Nihilismus hervor, der sich vor allem in den USA, aber auch in Europa breitgemacht habe.
Keine Angst vor Russland
Seine grundlegende Sorge ist keine russische Invasion in Europa, wofür Russland demografisch viel zu schwach sei. «Das sind überhaupt nicht die Ziele der Russen.» Todd warnt dagegen vor der «Existenz eines mächtigen nihilistischen Triebes in den USA, ein Streben nach Krieg, nach Gewalt». Diese Gesellschaft ohne «protestantische Matrix» wisse nicht mehr, «wohin sie geht», und provoziere und verschärfe «überall auf der Welt Konflikte».
Er sieht im Westen einen Übergang von der «liberalen Demokratie» zur «liberalen Oligarchie». Über Frankreich sagt er, dass es gar nicht mehr selbst existiere, «weil es jetzt auf die USA ausgerichtet ist». Die «europäische oligarchische Klasse» hätte sich emanzipieren können, werde aber von dem US-Geheimdienst NSA «sehr genau überwacht», verweist der französische Historiker auf die entscheidenden Machtverhältnisse.
Ihn interessiere die Entwicklung in Deutschland, erklärt er und definiert die deutsche Gesellschaft als «Maschinengesellschaft». Diese habe «kein reales Ziel» mehr, produziere aber immer noch Wirtschaftskraft. Die deutsche Bevölkerung müsste aufgrund der niedrigen Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau schrumpfen, wachse aber in Folge der Migration.
Aus Sicht von Todd hat Deutschland seine Industrie bisher entwickeln und bewahren können, trotz der «Obsession der Amerikaner, dies von Anfang an zu verhindern». Für ihn gehört zu den «wahren strategischen Zielen» der USA, die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. «In diesem Krieg geht es um Deutschland», hatte er bereits Ende 2022 in einem Interview mit der Schweizer Zeitung Die Weltwoche erklärt.
Demografisches Defizit als Friedenschance?
Er spricht vom «Terror der amerikanischen Geopolitiker», bei denen es sich um eine «Kaste ohne Moral» handele, die nur noch eine Vorliebe für Geld und Krieg habe und es geniesse, «in Eurasien Unordnung zu stiften».
Doch nicht Russland gewinne den aktuellen kriegerischen Konflikt, so Todd, «sondern der Westen verliert und die Realität wird gewinnen». Er widerspricht der verbreiteten Sicht, dass die gegenwärtige Situation derjenigen ähnele, die es vor dem Ersten Weltkrieg gab.
1914 habe es eine «Welt der demografisch wachsenden Nationen gegeben». Er benennt als Unterschied zu heute: «Wirtschaftliche, industrielle und militärische Macht sprudelte aus allen Ecken und Enden und jeder hatte Angst, dass sein Nachbar schneller im Wachstum war.» Die beiden Weltkriege seien nur durch die «unerschöpflichen demografischen Ressourcen» möglich gewesen.
Die heutigen Industriestaaten seien dagegen von einem demografischen Defizit gekennzeichnet. Am Ende des Krieges in der Ukraine werde festgestellt, «dass wir uns in einer Welt mit geringer Macht befinden, mit rückläufigen Bevölkerungszahlen und einer Welt, die keine Kriege mehr führen wird».
Für den französischen Historiker ist «das Beste, was Europa passieren kann, dass die USA verschwinden». Die Frage europäischer Politiker, was passiert, «wenn die USA uns nicht mehr beschützen», beantwortet er damit, dass nichts passieren und Frieden möglich sein werde.
Für den von vielen heraufbeschworenen Angriff Russlands auf Europa sei dieses schon demografisch zu schwach. Und es leide «auf seine eigene Weise unter demselben Individualismus wie Frankeich», auch wenn Putin deshalb die russischen Traditionen bewahren wolle.
Selbst China habe nur noch eine Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau. «Es gibt ein Problem, das allen gemeinsam ist, das ist der Frieden», stellt Todd fest.
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