Ein juristisches Gutachten geht mit der Coronapolitik des Bundesrates hart ins Gericht. Wie Die Ostschweiz am 16. April 2021 berichtete, hat die schweizweit tätige Anwaltskanzlei Bratschi im Auftrag des Verbands für Hotellerie und Restauration (Gastro Suisse) ein Rechtsgutachten erstellt, das vom 12. April 2021 datiert.
Das staatsrechtliche Gutachten stellt die «rechtswidrige Entscheidungsfindung des Bundesrates bezüglich den Corona-Massnahmen fest». Das Gutachten von Prof. Dr. iur. Isabelle Häner (Universität Zürich) und Dr. iur. Livio Bundi kann auf der Webseite der Kanzlei eingesehen werden. Im 38 Seiten umfassenden Dokument werden unter anderem die parlamentarischen Beratungen, verfassungsrechtliche Vorgaben, die Verhältnismässigkeit und Massnahmen-Kriterien besprochen.
Massnahmen-Kriterien nicht haltbar
Im Gutachten wurde die Rechtmässigkeit von Richtwerten des Bundesrats analysiert, mit denen er seine Massnahmen und Einschränkungen rechtfertigt. Auf Seite 12 des Gutachtens betonen die Juristen, dass der Bundesrat bei «seinen Entscheidungen eine umfassende Abwägung der betroffenen öffentlichen Interessen und Rechtsgüter vorzunehmen» hat. Jedoch seien die Richtwerte «ausschliesslich gesundheitsbezogen bzw. epidemiologischer Natur» (z.B. R-Wert, Todesfallrate). Diese Entscheidungsfindung sei nicht haltbar.
Die Juristen lassen kein gutes Haar an den einzelnen Kriterien. Zum Beispiel erweise sich die Inzidenzzahl als völlig untauglich. Die Inzidenz stelle keine valide Messgrösse dar, weil sie direkt mit der Anzahl der Testungen zusammenhänge. Letztere «ist jedoch mehr oder weniger willkürlich steuerbar» - weil: «mehr Testungen = mehr Fälle.» Es fehle ein vernünftiger Bezugsrahmen.
Ähnliches gilt für den R-Wert. Dieser soll messen, wie viele Menschen durch eine infizierte Person angesteckt werden. Dabei handle es sich lediglich um eine Schätzung, die immer wieder nachträglich korrigiert worden sei. Und selbst als der R-Wert über 1 lag, habe es im gleichen Zeitraum «keinerlei negative Auffälligkeiten bezüglich der Indikatoren Hospitalisationen, Intensivbettenbelegung, Todesfällen und Inzidenen» gegeben.
Grundrechte sind unantastbar
Das Gutachten hält auf Seite 14 fest, dass der Grundsatz gelte, «dass keinem öffentlichen Interesse für sich alleine eine absolute Bedeutung zukommt». Zu beachten dabei sei der «grundsätzlich absolut geschützte Kerngehalt der Grundrechte».
Dazu heisst es auf Seite 16 weiter:
Er [der Gesetzgeber] hat den Schutz der Grundrechte vor Verletzungen oder ernsthaften (abstrakten) Bedrohungen zu sichern. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Gesetzgeber (neben anderen Schutzaufträgen) sämtliche Grundrechtsinteressen zu beachten hat und kein bestimmtes Grundrecht zulasten aller anderen pauschal bevorzugen darf.»
Dies gelte beispielsweise für die Wirtschaftsfreiheit von (geschlossenen) Restaurants, die das Gutachten auf Seite 13 betroffen sieht. Die darauf folgende Arbeitslosigkeit sei von öffentlichem Gemeininteresse. So habe die Arbeitslosenquote im Zürcher Gastronomiegewerbe bereits im Januar 2021 über 11 Prozent betragen, was «rekordhoch» sei.
Konsequenzen besser einbeziehen
Für die Gesundheit besteht eine verfassungsmässige Schutzpflicht des Staates (Art. 118 BV: Schutz der Gesundheit). Doch dieser dürften nicht alle anderen öffentlichen Interessen untergeordnet werden, so die Quintessenz des Gutachtens.
Auf Seite 37 kommen die Juristen zum Schluss:
Ein auf die im Faktenblatt BAG Richtwerte April abgestützter bundesrätlicher Entscheid wäre damit als verfassungs- und gesetzeswidrig einzustufen.
Der Bundesrat wird angehalten, geeignete Indikatoren und Richtwerte zu schaffen, die die Massnahmen-Konsequenzen besser einbeziehen, etwa die Arbeitslosenquote pro Branche oder die Anzahl der Hospitalisierungen in psychiatrischen Kliniken.
Im Grunde genommen ist das Gutachten eine juristische Aufarbeitung, meint Die Ostschweiz. Nämlich darüber, was mittlerweile bei vielen Menschen als Eindruck über die Pandemiepolitik entstanden sei.