Aus der «Ausschussdrucksache» der Anhörung von Prof. Thorsten Kingreen vor dem Gesundheitsausschuss:
Es muss zudem nochmals betont werden, dass nach wie vor erhebliche individuelle Gesundheitsgefahren vom Coronavirus ausgehen. Aber derzeit geht auch das RKI nicht von einer systemischen Gefahr aus, die die Infrastrukturen des Gesundheitswesens überfordern könnten.2 Eine „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ i.S.v. § 5 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) liegt daher derzeit nicht vor.
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Der Feststellungsbeschluss muss nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG wieder aufgehoben werden, weil seine tatsächliche Voraussetzung, die Gefährdung der „öffentlichen Gesundheit“, nicht mehr vorliegt.
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Das rechtliche Problem besteht aber im Kern darin, dass die Feststellung der „epidemischen Notlage“ ein verfassungsrechtlich hochgradig problematisches Ausnahmerecht auslöst und ihre dauerhafte Aufrechterhaltung den fatalen Anschein eines verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Ausnahmezustands setzt.
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Die durch den Feststellungsbeschluss ausgelöste Ermächtigung des Bundesministers für Gesundheit, nach näherer Maßgabe von § 5 Abs. 2 IfSG in Rechtsverordnungen „Ausnahmen“ und „Abweichungen“ von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, ist nämlich verfassungswidrig.
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Die Ermächtigungsgrundlagen in § 5 Abs. 2 S. 1 IfSG erlauben ohne jede Differenzierung Ausnahmen und Abweichungen von allen Normen der dort bezeichneten Gesundheitsgesetze.
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Bezogen auf die gesetzlichen Normen, die durch die Verordnung modifiziert werden können, handelt es sich also um eine Blankovollmacht, die weitaus mehr als 1.000 Vorschriften umfasst.
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Diese Verlagerung (grundrechts-)wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf eine gesetzlich nicht angeleitete Exekutive wird nicht nur von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, sondern fast einhellig im rechtswissenschaftlichen Schrifttum für verfassungswidrig gehalten.
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Sie schwächen vor allem die Opposition im Bundestag, die dadurch von der Krisengesetzgebung ausgeschlossen wird. Und sie erzeugen den fatalen Eindruck eines Ausnahmezustands, der nicht in den üblichen, von der Verfassung zur Verfügung gestellten Formen und Verfahren bewältigt werden kann.
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Man scheint sich allmählich an die Gesetzgebung durch ministerielle Notverordnungen zu gewöhnen. Während man bislang noch sagen konnte, es gehe doch nur um Detailfragen des Infektionsschutzrechts (und auch das stimmt nicht, es geht auch um sensible Fragen wie eine Deregulierung des Arzneimittelzulassungsrechts), geht es beim Wahlrecht dann um das demokratische Eingemachte. Wenn die Vorbereitung der Wahl zur Disposition der Exekutive gestellt wird, so genügt das nicht der vom Bundesverfassungsgericht eingeforderten „strikte[n] rechtliche[n] Regelung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl“, die der „Bedeutungder Wahl zum Deutschen Bundestag als Ausgangspunkt aller demokratischen Legitimation wie auch der Gewährleistung des aktiven und passiven Wahlrechts“ entspricht.
Mittelfristig ist daher zu empfehlen, die verfassungswidrige Konstruktion des § 5 IfSG insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Sie lässt sich insbesondere nicht dadurch rechtfertigen, dass der parlamentarische Gesetzgeber nicht zügig auf Veränderungen des Infektionsgeschehens reagieren könnte.