Gunnar Kaiser, Schriftsteller und Philosoph, fragt sich in der NZZ, warum in der Corona-Zeit soviele Soziologen und Philosophen das kritische Denken kritisieren und zu radikalen Fürsprechern des neuen Verordnungsstaates geworden sind.
Er ortet vor allem einen Mangel an Misstrauen gegenüber starken Top-down-Eingriffen in das Leben der Menschen. Sie scheinen zu wissen, dass das, was manche Menschen nicht einsehen wollen, der Staat aus guten Gründen erzwingen kann.
Die meisten Intellektuellen hiessen die neu erworbene Machtfülle des Verordnungsstaates und ihre Akzeptanz seitens der Bevölkerung nicht nur gut, sondern instrumentalisierten sie auch für ihre eigenen Gesellschaftsutopien. Sie begrüssten einen Staat, der einschreitet und kontingentiert (Precht) und sähen die Corona-Krise als eine «Art gesellschaftliches Trainingsfeld unter Extrembedingungen» für einen Grossakteur, dem in Zukunft mehr «regulierende Verantwortung» (Reckwitz) zufallen werde.
Befremdend sei nicht nur, wie selten die Ewigmorgigen, die so denken, die verheerenden Nebenfolgen der Interventionen überhaupt in Betracht zögen. Bedenklich sei auch, wie schnell sie die nun vorherrschende Rhetorik der «neuen Normalität» übernommen hätten – als hätten sie auf nichts sehnlicher gewartet.
Dass Intellektuelle für den volkswirtschaftlichen Schaden ebenso blind seien wie für das unbeabsichtigt hervorgerufene Leid durch ihre Utopien, sei eine alte Geschichte.
Dass sie aber der globalen Beschleunigung so vieler bedenklicher Prozesse (Tracking-Apps, Drohnenüberwachung, Verhaltenszwang auch in öffentlichen Räumen, digitale Immunitätsnachweise, verschärfte Impfpflicht), die mit der Corona-Krise forciert wurde, so unkritisch gegenüberstünden, stimme mehr als nachdenklich und werfe die Frage auf: Denken sie eher zu viel oder womöglich doch zu wenig?
Kritik hingegen werde mit einer gefährlichen Mischung aus Empathielosigkeit und Moralismus unter den Verdacht des Extremismus gestellt. Wer frage, wie lange die Einschränkungen noch dauern und wie weit sie denn noch gehen sollen, stehe schnell als Wehrkraftzersetzer da.
Kaiser greift in seiner Analyse züruck auf ein Werk von Helmut Schelsky von 1961: «Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation». Darin wird die Ablösung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft der Technik beschrieben. Die Marschrichtung werde von den Sachzwängen des technisch Machbaren vorgegeben und der Mensch im wissenschaftlichen Zeitalter werde Zeuge der Aushöhlung der Demokratie zugunsten eines rein technischen Staates.
Diese Sachzwänge offenbarten sich uns in Form des Contact-Tracing nach chinesischem Vorbild, in Form von digitaler Identität (ID2020) oder bargeldlosem Zahlungsverkehr, die im Zuge von Corona eingeführt und bald als selbstverständlich empfunden werden dürften.
Kaiser stellt fest: «Wir erleben uns nicht mehr als mitbestimmende Bürger, die den Sachzwängen des Machbaren andere Werte des Zusammenlebens entgegenhalten dürfen.»
Spannend ist auch der Brückenschlag zu Michel Foucaults Analyse der Reaktion auf die Pest der frühen Neuzeit. In «Überwachen und Strafen» (1975) geht dieser dem Gedanken nach, dass die Behörden die Pest nutzen konnten, um ihre normative Macht auf Individuen anzuwenden:
Das Ziel war die Erzeugung einer gesunden Bevölkerung. Als Mittel erhielten Kontrolle und Disziplinierung «bis in die feinsten Details der Existenz» ihre Rechtfertigung. Diese Machtmittel waren nach dem Verschwinden der Pest dann Bestandteil der neuen Normalität, und vor dieser Gefahr stehen auch wir, wenn die Rhetorik «Die Zeit nach Corona ist eine Zeit mit Corona» zur Selbstverständlichkeit wird.