Als ich vor vielen Jahren dieses Schild «Wertstoffhof» zum ersten Mal sah, wusste ich nicht, ob ich mir an den Kopf fassen oder einfach nur lachen sollte. Es wies in eine kurze Zufahrtsstraße. Hinter dem offenen Gitter waren auf der rechten Seite mehrere Container zu sehen, geradeaus zwei Betonsilos, augenscheinlich halb gefüllt mit Altmetall.
«Aha, eine Sammelstelle für die Abfälle. Aber so darf man das ja nicht mehr nennen, das würde den grünen Eifer fürs Mülltrennen dämpfen. Also sind das jetzt Wertstoffe!» Mit welcher Hingabe hatten doch unsere Vemieter in deutschen Ferienwohnungen uns immer die drei bis fünf verschiedenen Abfalleimer in der Küche zu erklären versucht!
Ähnlich also, wie aus dem künstlichen Gebiss die «dritten Zähne» wurden, verwandelten sich kleine Läden zu «Shops» und eben Abfälle in «Wertstoffe». Mit entsprechender Posie wird noch der ärgste Misthaufen verklärt.
Gut benannt ist halb versüßt? Die Kündigung wird zur «beruflichen Herausforderung», die Scheidung zur «Chance des Lebens», die Pleite zur «langgehegten neuen Orientierung». Schönreden ist angesagt. Wer will schon «im Negativen steckenbleiben» und sich vorwerfen lassen, er könne nicht «loslassen» und sich «in positive Schwingungen begeben»?
Wenn es nur immer so einfach wäre! Die jungen Leute, die ich im vergangenen Herbst in Bad Säckingen getroffen hatte, haben das anders gesehen. «Ja, man hat uns unsere Jugend gestohlen. Und es heißt doch, die Jahre zwischen 14 und 17 seien die schönsten im Leben.» Wie viele Brüche in den Biografien haben die letzten Jahre verursacht und vertiefen sie weiterhin! Poetische Verklärung? Nein, danke.
Also lieber die Brüche fromm übermalen als «Gottes gute Führung», als seine «unverständlichen hohen Ratschlüsse» und als seine «Vorsehung, der wir uns unterzuordnen» hätten? Die Versuchung dazu ist naheliegend. Und sie ist eine Versuchung, solange solcherlei Einordnungen reflexartig geschehen, ohne Nachdenken und mit der Absicht, einen Schmerz gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die Bibel jedenfalls ist kein in diesem Sinne frommes Buch. Zu tief reicht sie hinunter ins Elend, in Missgunst, Raub und Betrug. Zu sehr leiden ihre Figuren unter dem, was ihr Gott ihnen immer wieder zumutet und was andere Menschen ihnen antun. Ein Halleluja vor dem Anerkennen eines Übels ist selber vom Übel. Ein Halleluja mit offenen Augen, in oder nach überstandenem Übel, ist Lobpreis aus der Tiefe.
Ein Lobpreis wie aus dem Munde Josefs. Fast hatten ihn seine eifersüchtigen Brüder umgebracht. Dann aber haben sie ihn nur an vorüberziehende Händler verkauft. So landet er in Ägypten. Auf Umwegen übers Gefängnis gelangt er dort jedoch in höchste Positionen und kann sogar das Land durch eine Hungersnot lotsen.
Auch seine Brüder reisen nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Sie erkennen ihn nicht, und er selber stößt sie in eine Mischung aus Ungewißheit in der Sache und Erkenntnis ihrer selbst. Bis er sich ihnen schließlich doch als ihr Bruder offenbart.
Ihr Schrecken ist gewaltig, und sie flüchten sich in umso größere Ehrfurcht gegenüber ihrem misshandelten Bruder. Dessen Antwort entwaffnet sie:
«Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am Leben zu erhalten»; 1. Mose 50,20.
Professor Martin Anton Schmidt, Kirchengeschichtler an der Theologischen Fakultät Basel, bekannte einmal mitten in einer Vorlesung, dass dieser Vers für ihn das schönste Wort aus der ganzen Bibel sei.
Diese Interpretation des späteren Josef macht mir den rhetorischen Wechsel von einer Abfallhalde zu einem Wertstoffhof sympathisch. Einzelbrocken, zum Wegwerfen vorgesehen, werden vorsortiert für ein neues Ganzes, das keiner der Lieferanten je würde in den Blick bekommen können. Selber sieht man billigsten Unrat, ein Anderer hingegen erkennt den hohen Restwert.
Verraten, verkauft, vermurkst war sein Leben; eigentlich Grund, es wegzuwerfen und es nur noch der Jahre halber irgendwie weiterlaufen zu lassen. Die schönen Träume waren ausgeträumt, irgendwie hatte alles nicht sollen sein.
Sie waren tatsächlich zu einem Ende gekommen, Josefs eigene Vorstellungen vom Leben. Aber ein Größerer hatte seine Hand darüber gehalten. Wie lange ihm das vielleicht selber unbewußt war, wird nicht berichtet, doch im erwähnten Halleluja vor seinen Brüdern erkennt er diese Grundströmung des eigenen Lebens an. Seine gebrochene Biografie hatte ihn an eben den Ort geführt, der für andere lebensnotwendig war.
Anlässlich seiner Silbernen Hochzeit bekannte der Pfarrer und Reichstagsabgeordnete Christoph Blumhardt Ende des 19. Jahrhunderts:
«Ein starker Arm hat mich geführet in meiner Jugend trotz aller Torheit und Schwermütigkeit, wie es eben einem Menschen geht, der − innerlich unbefriedigt − nicht weiß, was mit sich anfangen. Dem ist schließlich die ganze Welt verleidet, und sie war mir verleidet.
Aber trotzdem hat Gott mit starkem Arm mich gehalten und hat etwas wollen mit mir, und weil er es wollte, so musst es auch werden durch alle Schwierigkeiten und Hindernisse hindurch.»
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