Es hatte sich abgezeichnet: Wohl aus Frust über den in den letzten Jahren nur schleppend vorangekommenen EU-Beitrittsprozess obsiegte die rechtsgerichtete Opposition in Nordmazedonien sowohl bei den Parlaments- als auch bei den Präsidentschaftswahlen. Neue Präsidentin wird als erste Frau die Universitätsprofessorin Gordana Siljanovska-Davkova.
Die Gründe für den Machtwechsel sind klar. Die nur zwei Millionen Einwohner des kleinen Balkanlandes sind frustriert über den nur schleppend vorankommenden EU-Beitrittsprozess, über die schlechte Wirtschaftslage sowie über Vetternwirtschaft und Korruption.
Viele Menschen beklagten, dass die staatlichen Institutionen mangelhaft arbeiten. Die Staatskasse ist leer, während massenhafte Auswanderung zu einem dramatischen Bevölkerungsschwund und Verlust an qualifizierten Arbeitskräften führe. Die EU weist immer wieder auf Versäumnisse bei der Wirtschafts- und Justizreform hin.
Woher kommt die neue Regierungspartei VMRO-DPMNE und was hat ihr Wahlsieg zu bedeuten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tief in die Geschichte des Südbalkans eintauchen. Die Partei wurde 1893 als Terrororganisation im ottomanischen Reich gegründet. Und hier sind wir schon mittendrin in der wechselvollen Geschichte dieses leidgeprüften Balkanvolkes.
Auf dem Balkan hatte sich unter römischer Herrschaft im Norden die lateinische und im Süden die griechische Sprache durchgesetzt. Ab dem 6. Jahrhundert ließen sich slawische Stämme nieder, die durch die Apostel Kyrill und Method christianisiert wurden. Der Niedergang der oströmischen Macht ging einher mit einem Machtgewinn des ottomanischen Reiches, das seine größte Ausdehnung im 19. Jahrhundert erreicht hatte.
Auf dem Balkan gab es für lange Zeit eine bedeutungsvolle Grenze, die das ottomanische Reich von der sich im 19. Jahrhundert ebenfalls im Zenit ihrer Macht befindlichen Donaumonarchie schied. Im Südbalkan, ottomanisch beherrscht, gab es keine sauberen ethnischen Strukturen. Der Fleckenteppich, der in Jugoslawien bis zu den Kriegen der 1990er Jahren bestand, war das vorherrschende Strukturprinzip.
Die Ottomanen teilten dabei ihre Untertanen nicht nach Volkszugehörigkeit oder Sprache ein, sondern nach Religion. Griechen wurden dabei dem Konstantinopler Patriarchat zugeschlagen, Serben dem Belgrader Patriarchat und es gab auch eine Volksgruppe, die dem sogenannten Exarchat zugeschlagen wurde, das sich im bulgarischen Sofia befand und heute Patriarchat von Bulgarien genannt wird.
Das Nationalbewusstsein war zunächst nicht bei allen Volksgruppen gleich ausgeprägt, vor allem bei der exarchischen Volksgruppe nicht. Gleichzeitig kann man heute auch schlecht sagen, wer wo welcher Volkszugehörigkeit war. Wer zum Beispiel bei den türkischen Behörden als Muslim registriert war, war nicht unbedingt Türke, er konnte auch Albaner sein.
Uns geht es um die Volksgruppe, die zu ottomanischer Zeit dem Exarchat zugeschlagen wurde. Und es geht um Mazedonien, das zunächst ein geographischer Begriff ist. Zu ottomanischer Zeit hatte sich besagter Fleckenteppich über das gesamte Mazedonien gelegt; heute teilen sich Griechenland, zu einem kleinen Teil Bulgarien und eben das Land, um das es hier geht, dieses Gebiet.
Die Balkankriege beendeten auf blutige Art die Dominanz des ottomanischen Reiches auf dem Südbalkan. Es entstanden Nationalstaaten, wobei die Grenzziehung willkürlich war, oft nach dem Recht des Stärkeren erfolgte und wiederum auf dem Territorium der neu entstandenen Nationalstaaten unbefriedigte Minderheiten schufen.
Im Frieden von San Stefano wurde 1876 praktisch die ganze geographische Region Mazedonien Bulgarien zugeschlagen. Diese Ordnung hatte aber nicht Bestand und wurde ein paar Jahre später am Berliner Kongress revidiert. Die Großmächte wollten nicht, dass Russland durch seinen Verbündeten Bulgarien Zugang zur Ägäis erhielt.
Die ottomanische Ordnung wurde restauriert. Nun begann aber ein Wettstreit um die Dominanz auf dem Gebiet des geographischen Mazedonien. Ob Dörfer dem Exarchat oder dem Patriarchat zugehörig waren, änderte sich. Oft wurde Druck gemacht, Gewalt eingesetzt; es gab auch Tote. Gewalt wurde zwar von beiden Seiten angewendet, dem Exarchat loyale Kräfte waren aber eindeutig aggressiver. In diesem Zusammenhang formierte sich 1893 die Terrororganisation IMRO, die neue Regierungspartei Nordmazedoniens.
In dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg tauchte denn auch erstmals das Adjektiv «mazedonisch» im Zusammenhang mit den slawischsprachigen Bewohnern der geographischen Region Mazedonien auf, allerdings erst einmal zusammen mit dem Adjektiv «bulgarisch».
Das Pulverfass Balkan war entstanden. In den dem Ersten Weltkrieg vorangehenden Balkankrisen und im Ersten Weltkrieg versuchte Bulgarien wiederum, sich großer Teile Mazedoniens zu bemächtigen und abermals einen Zugang zur Ägäis zu erhalten. Dieser Versuch scheiterte und Bulgarien erlitt eine bittere Niederlage.
In dieser Zeit entstand Griechenlands Nordgrenze, wie sie heute noch aussieht. Das neu entstandene Jugoslawien hatte sich seinerseits große Gebiete bis zur griechischen Grenze einverleibt. Die Volksgruppe auf seinem Territorium, die dem Exarchat zugehörig war, wurde kurzerhand dem Belgrader Patriarchat zugeschlagen.
Kurzfristig diente dies Griechenland, denn die Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Terror der IMRO im nun jugoslawischen Teil Mazedoniens richtete sich gegen das serbisch dominierte Jugoslawien. Griechenland war zunächst nicht mehr im Fokus und die Bevölkerungszusammensetzung in Nordgriechenland änderte sich, weil eine riesige Anzahl von Flüchtlingen aus Kleinasien im griechischen Mutterland angesiedelt werden musste. Für die verbleibende slawische Bevölkerung in Nordgriechenland entstand dadurch ein starker Assimilierungsdruck.
In der Zwischenzeit tauchten erstmals Referenzen auf, die sich auf die «mazedonische Sprache» bezogen. Gemeint ist die Sprache, die die Bulgaren als bulgarischen Dialekt und die Serben als Südserbisch bezeichneten. Der deutsche Slawist Thede Khal sagt, dass man zwar die These vom bulgarischen Dialekt vertreten kann, politisch steht diese Meinung aber auf verlorenem Posten. Auch Griechenland besteht heute nicht mehr darauf, dass es eine mazedonische Sprache nicht gibt. Immerhin gab es schon vor und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg offizielle griechische Dokumente, die sich explizit darauf bezogen.
Griechenland trat in den Zweiten Weltkrieg ein, indem es ein italienisches Ultimatum ablehnte. Dem Land gelang es aber überraschend, die Armee Mussolinis vernichtend zu schlagen. Das Deutsche Reich musste zu Hilfe eilen und dieser zweiten Invasion war Hellas nicht mehr gewachsen. Das rief wiederum die mit den Achsenmächten verbündeten Bulgaren auf den Plan, die sich erneut einen Zugang zur Ägäis verschafften und große Teile Nordgriechenlands besetzten. Bulgarien setzte dabei auf Kader der IMRO, die vielerorts die Bürgermeister und weiteres administratives Personal stellte.
Ein Teil der slawischsprachigen Minderheit, die vorwiegend in Nordwest-Griechenland ansässig war, bildete militante Gruppierungen. Diese kämpften entweder auf Seiten der Achsenmächte oder waren kommunistisch geprägt. Diese Gruppierungen verfolgten zwar gegensätzliche Ideologien, verfolgten aber beide die Trennung des makedonischen Territoriums von Griechenland und seinen Anschluss an Bulgarien oder Jugoslawien. Nach dem Rückzug der Achsenmächte wurden die Vorkriegsgrenzen wiederhergestellt.
In Jugoslawien wurde 1944 die sechste Teilrepublik der jugoslawischen Föderation ins Leben gerufen. Deren Grenzen entsprachen genau dem heutigen Nordmazedonien. In dieser Zeit begann die jugoslawische Führung bewusst, eine mazedonische Nationenbildung zu betreiben. So gelang es im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, die Gegend vorerst zu befrieden. Gleichzeitig gab es aber Andeutungen von titoistischer Seite, wonach das griechische Mazedonien inklusive Thessaloniki, eigentlich zu Jugoslawien gehören sollten. Griechenland war damals schwach und gespalten und konnte vorerst nicht adäquat auf diese irredentistischen Strömungen reagieren.
1949 wurde die Niederlage der Kommunisten im griechischen Bürgerkrieg besiegelt und Angehörige der slawischsprachigen Minderheit, die sich in großer Zahl im Bürgerkrieg exponiert hatten, verließen Hellas. Während der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West im Kalten Krieg wurde auch der Mazedonienkonflikt für ein halbes Jahrhundert «eingefroren» – um dann mit umso größerer Schärfe wieder aufzubrechen.
Als Jugoslawien zerfiel, erklärte die Sozialistische Republik Mazedonien ihre Unabhängigkeit und nannte sich bis zum Vertrag von Prespes im Jahr 2019 Mazedonien. Treibende Kraft war die IMRO, die sich nun VMRO nennt und seit der Einführung des Mehrparteiensystems im Parlament von Skopje einen stark nationalistischen Kurs fährt und oft die Regierung stellt. Der jetzige Wahlsieg ist also keine Premiere.
Mit der Erlangung der Unabhängigkeit flammte der Konflikt wieder in ungeahnter Schärfe auf. Griechenland sah den Namen Mazedonien als historisch nicht gerechtfertigt an, da die Geschichte des antiken Makedoniens ein Teil der griechischen antiken Geschichte ist, und zu diesem Zeitpunkt keine Slawen in der Region wohnten.
Zusätzlich wurde argumentiert, dass ein großer Teil des jungen Staates nie Teil der historischen Region Makedonien gewesen sei. Die Bezeichnung Mazedonien für einen slawisch dominierten Staat wurde im Zusammenhang mit den Ereignissen des blutigen griechischen Bürgerkrieges und als kommunistische Erfindung angesehen.
Die junge Republik argumentierte, dass die Bezeichnung Makedonien mindestens seit dem 19. Jahrhundert für die ganze Region üblich sei, und dass sich die slawischsprachigen Bewohner der Region auch mindestens ebenso lang als Mazedonier bezeichnen.
Ein weiterer Grund für das Aufflammen des Konfliktes war die Verfassung: Diese erklärte, dass sich die Republik für den Status und die Rechte der Mazedonier in den Nachbarländern einsetzt. Dieser Artikel verpflichtete die Republik, alle Mazedonier in ihrer kulturellen Entwicklung zu unterstützen und ihre Bindungen an die alte Heimat zu fördern.
Griechenland erinnerte sich an die Zeit des Bürgerkriegs und die aggressive bulgarische Politik, interpretierte dies als Ermutigung zum Separatismus und befürchtete potenzielle territoriale Ansprüche. Gleichzeitig wählte die junge Republik den Stern von Vergina als Staatsflagge.
Dieses Symbol des antiken, griechischen Mazedoniens wurde in den 1980er Jahren bei Ausgrabungen in Griechenland entdeckt und korreliert mit Makedonien aus der antiken Zeit. Zu Recht fasste Griechenland dies als Provokation auf, denn slawische Mazedonier haben mit dem antiken, griechischen Mazedonien Alexander des Großen keine historische Kontinuität aufzuweisen. Treibende Kraft war die VMRO.
1993 wurde verhandelt. Eine Lösung lag auf dem Tisch. Ministerpräsident Kostas Mitsotakis, der Vater des heutigen Regierungschefs, der einer Minderheitsregierung vorstand, stürzte über seinen Parteikollegen Antonis Samaras, der die Einigung hintertrieb. Deshalb wurde diese Vereinbarung nie umgesetzt. Seit dieser Zeit wurde bis vor einigen Jahren hüben wie drüben der Konflikt dazu benutzt, dem politischen Gegner zu schaden und die Volksseele zum Kochen zu bringen.
Die Chancen einer Verständigung und die Risiken des Status quo wurden kaum gesehen, die Risiken eines Kompromisses hingegen schon. Kompromissfähigkeit wird auf dem Balkan immer noch allzu oft als Schwäche gesehen. Beliebt sind Politiker, die aufs Ganze gehen. Hinzu kommt bei den Griechen nicht selten ein Überlegenheitsgefühl, das das Verständnis für die Gegenseite und eine Kompromisssuche ebenfalls erschwert.
Erst der sozialdemokratische Ministerpräsident Zoran Zaev und sein griechischer Amtskollege Alexis Tsipras unternahmen wieder einen Lösungsversuch, der schließlich 2019 erfolgreich war.
Psarades ist ein kleines Dorf an den Prespes-Seen am Dreiländereck Griechenland, Albanien und Nordmazedonien. Ich war einmal dort. Es gibt einen wunderschönen Sandstrand, wunderbares klares Seewasser, gute Tavernen und pittoreske Dörfer in der Gegend – aber keine Leute. Die Grenze war damals praktisch tot. Touristen gab es keine und die Dörfer waren überaltert. Überall sah man verrammelte Fenster an Häusern, die verlassen waren, weil weder die Scholle noch die Wirtschaft die Menschen ernähren konnte.
Man hatte den Eindruck, am Ende der Welt zu sein. Mutterseelenallein war ich am Strand und ich hatte den ganzen See für mich, als ich darin schwamm und meine Kreise zog. Genau in dieser Ecke haben die Ministerpräsidenten Zaev und Tsipras 2019 den Vertrag von Prespes unterzeichnet.
Der Vertrag beinhaltet die Verpflichtung Nordmazedoniens, diesen neuen Namen in offiziellen Dokumenten für alle Zwecke erga omnes zu verwenden und das so in die Verfassung des Landes zu schreiben. Das ist in der Tat ein fairer Kompromiss, weil es einen klaren geographischen Unterschied zur griechischen Region Mazedonien schafft.
Gleichzeitig wäre es unrealistisch von Griechenland, nach so langer Zeit auf einen Namen zu bestehen, der nicht mindestens das Wort Mazedonien enthält. Dies hätte jede Vereinbarung verunmöglicht. Die Wahl des Namens «Slawomazedonien» oder ähnlich verbot sich wegen der zahlenmäßig starken albanischen Minderheit im Land.
Der Vertrag ist sehr detailliert und versucht, alle Streitpunkte ein für alle Mal zu regeln. Nordmazedonien musste nicht nur seinen Namen und seine Verfassung ändern, sondern muss auch aus allen offiziellen Dokumenten, Schulbüchern und dergleichen sämtliche irredentistischen Tendenzen und Verweise auf die Antike tilgen. Griechenland hat hingegen sein Veto gegenüber einem NATO-Beitritt und gegenüber der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen aufgegeben.
Und hier liegt für beide Länder der große Vorteil der Vereinbarung. Eine Normalisierung der Beziehungen und eine allfällige EU-Mitgliedschaft des Landes könnten in der Region wirtschaftliche Impulse auslösen, Jobs schaffen und vielleicht sogar die Abwanderung stoppen. Vielleicht wird es bald einmal an der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien öfters so geschäftig zu- und hergehen wie am Tag der Unterzeichnung des Prespes-Vertrages. Und vielleicht werden die Besucher des Sees den Strand und das Wasser bald nicht mehr für sich allein haben.
Zu wünschen wäre es, aber wie der Wahlsieg der Nationalisten zeigt, hat sich diese Hoffnung bisher nicht erfüllt.
In den letzten Jahren trat aber noch ein weiterer Player im Südbalkan auf: die Türkei. Sie tätigte erhebliche Investitionen in den Infrastruktursektor, wobei türkische Unternehmen die Verwaltung der Flughäfen von Skopje und Ohrid übernahmen.
Nachdem aber Griechenland und Nordmazedonien die bilateralen Probleme bereinigt hatten, wurde Nordmazedonien in die NATO aufgenommen. Das Land musste dann seine Luftraumüberwachung professionalisieren, oder sie einem anderen NATO-Staat abtreten. Der Auftrag ging nicht an die Türkei, die sich unter Präsident Erdogan strategisch geschickt in ihrem ehemaligen Einflussgebiet im Südbalkan wirtschaftlich und kulturell breitmacht, sondern – an Griechenland.
Manchmal ist es klüger, einen schmerzhaften Kompromiss zu schließen, als ein Problem auf die lange Bank zu schieben. In den Jahren nach 1989 löste sich die Ordnung des Kalten Krieges auf. Auch der Balkan wurde völlig neu geordnet. Der große Abwesende dabei war Griechenland. In der gleichen Zeit rollte Österreich die ehemaligen Kronländer auf und kaufte zum Beispiel große Teile des Bankensystems dieser Länder zusammen.
Viele westeuropäische Kommentare sind geprägt von Unverständnis für diesen Konflikt. Sie fragen sich, wie man sich über ein derartiges Thema so ereifern könne. Man kann so argumentieren, wenn man aus der Schweiz kommt, einem Land, das seit vielen Jahrhunderten in den gleichen Grenzen lebt und vor 200 Jahren in den letzten Krieg gezogen wurde. Vor dem Hintergrund der leidvollen Erfahrungen des Balkans ist der Konflikt aber allzu verständlich. Hoffen wir, dass er nach der Regierungsübernahme der VMRO-DPMNE nicht wieder aufflammt.
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop: