Am Samstagmorgen begann die Palästinenserorganisation Hamas die Operation «Al-Aqsa-Flood». Der koordinierte Angriff aus Gaza auf Israel umfasste massiven Raketenbeschuss und das Eindringen über zahlreiche Grenzposten. Die Kämpfer griffen unter anderem militärische Ziele an und brachten israelische Siedlungen vorübergehenden unter ihre Kontrolle.
Dem Guardian zufolge ist die Zahl der israelischen Todesopfer am Montag auf 800 gestiegen. Über 100 Menschen seien zudem nach Gaza verschleppt worden. Bei mehr als 250 der Toten handelt es sich um Besucher eines Rave-Festivals nahe der Grenze zum Gazastreifen (wir berichteten). Gemäss Medienberichten sind auch Ausländer umgekommen oder entführt worden. Israel hat unterdessen zurückgeschlagen und Gaza massiv unter Beschuss genommen. Laut AP kamen dabei über 680 Palästinenser ums Leben.
Der schreckliche Angriff hat im Westen eine allgemeine Solidarität mit Israel hervorgerufen. Dabei geht gerne unter, dass Gaza im Grunde das grösste Gefängnis der Welt darstellt. Über zwei Millionen Menschen drängen sich unter schlimmen humanitären Bedingungen auf 365 km² in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt.
Auf Al Jazeera befasst sich Somdeep Sen, ausserordentlicher Professor für internationale Entwicklungsstudien an der Universität Roskilde in Dänemark, mit der Hamas-Operation und den ihr zugrunde liegenden Gründen.
Sen stellt fest: Einige bezeichneten den Angriff als «kolossalen Misserfolg» für Israel, andere verurteilten ihn als «unprovozierten terroristischen Akt», gegen den Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Er argumentiert jedoch, dass die Operation weder überraschend noch unprovoziert sei, sondern eine zu erwartende Reaktion der Palästinenser aufgrund der israelischen Aggression und Besatzung.
Gemäss Sen steht die Hamas-Operation im Einklang mit dem Völkerrecht. Er verweist auf die Resolution 38/17 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in der bekräftigt wird, dass Menschen, die für ihre Unabhängigkeit und Befreiung von der Kolonialherrschaft kämpfen, das Recht haben, dies mit «allen verfügbaren Mitteln, einschliesslich des bewaffneten Kampfes» zu tun.
Angesichts der Tatsache, dass es die Palästinenser mit einer der am besten entwickelten und finanzierten Streitkräfte der Welt zu tun haben, findet der ausserordentliche Professor auch die asymmetrische Taktik und die Heimlichkeit der Hamas-Operation nicht überraschend.
Sen verwundert es auch nicht, dass der Angriff aus Gaza kam. Er verweist dabei auf den 2003 verstorbenen US-amerikanischen Literaturtheoretiker und -kritiker palästinensischer Herkunft, Edward Said, der den Gazastreifen als «wesentlichen Kern» des palästinensischen Kampfes bezeichnete. Sen weist darauf hin, dass das Gebiet seit 16 Jahren unter einer lähmenden Belagerung steht. Er erläutert:
«Die Blockade hat die Wirtschaft des Gazastreifens fast zum Erliegen gebracht. Heute ist fast die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos. Unter den jungen Menschen liegt die Arbeitslosenquote bei über 60 Prozent. Auch die Lebensmittelversorgung ist durch die Belagerung eingeschränkt. Von 2007 bis 2010 führten die israelischen Behörden eine Kalorienzählung des Nahrungsmittelbedarfs der Palästinenser durch, um eine Unterernährung knapp zu vermeiden und gleichzeitig den Zugang zu Nahrungsmitteln für die Menschen in Gaza zu beschränken.
Nach Angaben des Welternährungsprogramms ist heute ein erheblicher Teil der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen. Im Jahr 2022 hatten 1,84 Millionen Menschen in Palästina – ein Drittel der Bevölkerung – nicht genug zu essen. Von diesen Menschen galten 1,1 Millionen als ‹stark ernährungsunsicher›, 90 Prozent von ihnen lebten in Gaza.»
Einen weiteren Grund für den Angriff der Hamas macht Sen in den routinemässigen israelischen Militäraktionen im Gazastreifen aus. Sie würden sich gegen die Zivilbevölkerung und nichtmilitärische Infrastruktur richten, was zu unermesslichem Leid in der Bevölkerung führe. Insbesondere die Jugend leide unter psychischen Problemen.
Laut Sen ist der palästinensischer Widerstandsgeist trotz des jahrelangen Leidens nach wie vor stark. Die Operation «Al-Aqsa-Flood» werde als Teil des andauernden Kampfes für die Freiheit gesehen.
Während die Hamas die Operation offiziell mit der israelischen Entweihung der Al-Aqsa-Moschee und der zunehmenden Gewalt der Siedler rechtfertigte, wurde sie Sen zufolge wahrscheinlich schon vor den jüngsten Ereignissen geplant.
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