Das «krumme Holz», aus dem der Mensch laut Immanuel Kant gemacht ist, gehört der Vergangenheit an. Dies zumindest ist der Plan der Transhumanisten. Sie wollen den Menschen überwinden, ihn updaten und dabei neuerdings selbst Gott spielen.
Ihr Angriff zielt auf alles, was uns ausmacht, sagen Kritiker. Der Mensch, der als «hackbares Tier» (Yuval Harari) angesehen wird, soll zur Mensch-Maschine werden.
WEF-Gründer Klaus Schwab spricht auch von der «Verschmelzung unserer physischen, digitalen und biologischen Identität» – eine Verschmelzung, die er anvisiert.
Man könnte auch sagen: Tech-Konzerne sind heute die modernen Hohepriester. Sie sagen, was richtig und was falsch ist. Das gefällt selbstverständlich vielen nicht.
Klar ist: Das Thema Transhumanismus wird kontrovers diskutiert. Das verdeutlicht das Buch «Transhumanismus – Streitfrage», das jüngst im Westend Verlag erschienen ist.
Darin beziehen Stefan Lorgenz Sorgner und Philipp von Becker Stellung zur Thematik. Sorgner ist Philosophieprofessor an der John Cabot University in Rom und Herausgeber des Journal of Posthuman Studies und ein Verfechter des Transhumanismus. Nicht so von Becker: Der Autor und Filmemacher warnt seit Jahren vor den gegenwärtigen gesellschaftlichen Tendenzen.
Transhumanismus bedeutet Freiheit, sagt Sorgner, der die «Realisierung unserer posthumanen Zukunft» kaum erwarten kann. Von Becker wiederum sieht im Transhumanismus eine gefährliche Ideologie, die das Ende jeglicher freien Entfaltung des Individuums bedeutet. Die Positionen der beiden Intellektuellen könnten nicht unterschiedlicher sein.
Probleme lösen als Potential
Für Sorgner ist klar: Der Transhumanismus hilft, aktuelle Herausforderungen anzugehen. Dieser sei sowohl für Mensch und Klima von Vorteil. «Transhumanismus hat auch das Potential, globale Herausforderungen wie die Klimaveränderung, die Überbevölkerung und die soziale Gerechtigkeit anzugehen», schreibt der Philosophieprofessor.
Durch den technologischen Fortschritt hätten wir nämlich die Möglichkeit, «unsere Umwelt besser zu verstehen und zu schützen». Deshalb könnte auch die Welt nachhaltiger gestaltet werden, indem Energie und Ressourcen gespart würden.
Zudem ermögliche es der Transhumanismus, heute gesünder zu leben. Dies, dank der Informationen über Ernährung, Bewegung und Stressmanagement.
Sorgner betont aber auch: Es gehe nicht darum, den Menschen zu «verbessern» oder upzudaten. Soweit, wie gewisse Silicon-Valley-Transhumanisten es tun, geht Sorgner nicht. Er sieht im Transhumansimsus vielmehr die Chance, die Welt, «in der wir leben», zu «verbessern»,
Und er kommt zum Fazit: «Wenn wir Technologien und Wissenschaft auf sinnvolle und ethische Weise einsetzen, können wir die Menschheit zu einer besseren Zukunft führen, in der wir länger und gesünder leben und in der wir gemeinsam die globalen Herausforderungen angehen können.»
Überwachung als Gefahr
Weniger optimistisch zeigt sich von Becker: Es sei gerade das Ziel der Silicon-Valley-Kapitalisten, «in einer Welt der Computerisierung» und des «Dataismus», die Menschen zu überwachen und zu kontrollieren. Vorteile für die Gesellschaft als Ganzes sieht er darin keine – vielmehr eine Dystopie, die grosse Gefahren mit sich bringt.
Von Becker: «Der grösste Feind der Herrschaft ist die Unberechenbarkeit der Welt. Der programmierte Mensch soll Wirklichkeit werden, weil seine Unberechenbarkeit ausradiert werden soll.»
Genau darauf läuft es heute laut dem Transhumanismus-Kritiker hinaus. Tech-Giganten und Transhumanisten tüfteln gerade daran, den programmierten Menschen als «Untertan» aufzubauen.
Dafür muss auch das «krumme Holz Mensch» wieder «gerade gebogen» werden. Schliesslich sei das gerade Holz «das effizientere». Wichtig sei, dass «wir dann passender für die Maschinen werden», wie Günther Anders schon wusste. Wie Menschen darüber denken, sei nebensächlich. Denken sollen wir sowieso nicht mehr.
Der Mensch selbst, so von Becker, soll zum Algorithmus werden, «damit bei Enter nur noch eintritt, was eintreten soll». Unerwartetes oder Überraschendes darf es nicht mehr geben.
Schöne neue Welt (Aldous Huxley) kann man da nur noch sagen. Von Becker verweist auf den Roman «The Circle», der eine Welt beschreibt, in der jeder Bürger bis in seine Körpersäfte stets überwacht wird. Selbstverständlich nur zu seinem persönlichen Vorteil. Genau dorthin führt letztlich der Transhumanismus, so von Beckers Sorge.
Zum Schluss sei gesagt: Unabhängig davon, welche Meinung ein jeder von uns zum Thema vertritt, lesenswert ist die Streitschrift allemal. Und äusserst erfrischend zugleich. Gerade in der heutigen Zeit, wo unterschiedliche Ansichten und Streitgespräche einen schweren Stand haben, tut es gut, sich mit kontroversen Standpunkten auseinanderzusetzen.
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Über die Autoren:
Philipp von Becker, geboren 1979, lebt als Filmemacher, Autor und Publizist in Berlin. In seinem Buch «Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus» befasst er sich mit den Möglichkeiten der technischen Transformation des Menschen und dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel durch die Digitalisierung. 2018 reiste er für ein Filmprojekt zu gesellschaftlichen Veränderungen durch neue Technologien durch China.
Stefan Lorenz Sorgner, geboren 1973, studierte Philosophie in London, Durham, Giessen und Jena. Er ist Philosophieprofessor an der John Cabot University in Rom. Ausserdem ist er Chefredakteur und Gründungsherausgeber des Journal of Posthuman Studies. Zurzeit ist er Global Fellow an der Ewha Womans University in Seoul. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Schöner neuer Mensch, Übermensch, We have always been Cyborgs und Philosophy of Posthuman Art.
Buch-Hinweis:
Stefan Lorenz Sorgner contra Philipp von Becker: Transhumanismus – Streitfrage. Westend, 2023. 112 S., 14 €. ISBN: 978-3-86489-386-5
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