Was sich viele aus unserem Kulturkreis sicherlich nicht vorstellen können: Das Küssen ist eine Kulturpraxis, die nicht überall verbreitet ist.
So kam weltweit durchgeführte Studie zu dem Ergebnis, dass nur in etwas weniger als der Hälfte von 168 Kulturen der sogenannte «romantic–sexual kiss», bei dem sich die Lippen von zwei Menschen berühren, verbreitet ist und in einigen sogar als «eklig» empfunden wird.
Dabei ist es offenbar so, dass «Küssen ... vor allem eine Angewohnheit im Globalen Norden ist, im Globalen Süden wird sehr viel weniger oder auch gar nicht geküsst», so der Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter im Gespräch mit der Welt.
Doch auch in westlichen Ländern ist der tendenziell zwanglose Umgang mit dem Küssen historisch betrachtet noch nicht lange gang und gäbe. Ein beredtes Zeugnis dafür ist der erste Kuss der Filmgeschichte, der 1896 einen handfesten Skandal auslöste.
So hatte seinerzeit die Tageszeitung New York World den US-Erfinder und Filmpionier Thomas Alva Edison damit beauftragt, die Kussszene aus dem beliebten New Yorker Lustspiel «The Widow Jones» nachzustellen. Und so kam es, dass sich im April 1896 vor der Kamera von William Heise die Schauspieler May Irwin und John Rice in Edisons Studio, gelegen in West Orange im US-Bundesstaat New Jersey, küssten, so wie sie es zuvor bereits unzählige Male auf der Bühne getan hatten.
«Wobei, sie küssten einander nicht wirklich. Ihre Wangen berührten sich, während sie neckisch lächelnd – und natürlich tonlos – miteinander sprachen», so der Spiegel. «Der vermeintliche Kuss dauerte keine zwei Sekunden.» Hier die Kussszene:
Quelle: Youtube-Kanal der Library of Congress
«Was heute so banal und etwas albern wirkt, löste damals empörte Reaktionen und den Ruf nach Zensur aus», so der Spiegel weiter. Ein Geistlicher zum Beispiel habe das angedeutete Filmküsschen als «lyric of the stockyards», also als Schlachthoflyrik oder Kuhstallpoesie bezeichnet. Und Herbert S. Stone, Herausgeber der Chicagoer Literaturzeitschrift The Chap Book habe sich mit den Worten ereifert, «bei so etwas sollte die Polizei einschreiten».
Doch die Meinung, die eine Kultur über etwas wie das Küssen hat, ändert sich nicht nur in eine Richtung. Vielmehr durchlaufe auch das «Küssen im Laufe der Kommunikations- und Mediengeschichte Konjunkturzyklen», erläutert Haarkötter. «Es gab Zeiten, in denen Küssen eine grosse Rolle in den entsprechenden Gesellschaften spielte und Zeiten, in denen die Rolle gering war.»
Und derzeit würden wir ein «Ende des Küssens» erleben, wie es Haarkötter in seinem neuen Buch zum Thema mit dem Titel «Küssen – eine berührende Kommunikationsart» ausdrückt. Gegenüber der Welt sagt Haarkötter dazu:
«Spätestens als der Sex auf die Leinwand kam, geriet das Küssen ins Hintertreffen. Heute würde niemand mehr ins Kino gehen, weil zwei Menschen sich da intensiv küssen. Zu Zeiten von [den Hollywood-Grössen] Burt Lancester und Vivien Leigh war das noch anders. Wie wenig uns das Küssen ins Kino lockt, zeigt schon, wie unwichtig es geworden ist.»
Auch die «Corona-Zeit» habe «definitiv unserer Beziehung zum Küssen nachhaltig geschadet», so der 56-jährige. Und weiter:
«In Österreich gab es ein gesetzliches Kussverbot aufgrund dieser hygienischen Bedenken. Ich glaube, Körperkommunikation haben wir nochmal von einer anderen Seite kennengelernt. Deswegen sprach man ja auch von Social Distancing. Wo Gesellschaft sich voneinander distanziert, geht auch Kommunikation auf Distanz. Fürs Küssen als berührender Kommunikationsart ist dann kein Platz mehr.»
Auch die Digitalisierung mache das Küssen «kaputt». «Eine Gesellschaft, die mehr über das Küssen anstatt über Spaltung und Polarisierung reden würde, der ginge es vielleicht auch besser», gibt Haarkötter zu bedenken.
Nicht vergessen dürften wir zudem, dass soziale Medien Distanzmedien seien und damit per se das Gegenteil davon, was man als berührende Körperkommunikation bezeichne. «Menschen, die nur noch über irgendwelche Arten von Displays miteinander kommunizieren, die können nicht küssen», so Haarkötter, der anfügt:
«Durch die vielen medialen Spiegelungen denkt man heute sehr viel über sich selbst nach, während man beim Küssen über jemand andern nachdenkt. Das ist natürlich ein sehr grosser Unterschied.»
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