Es war eine Verhaftung, die keine sein sollte. Man hatte uns «nur» das Megafon abgenommen, damit ich nicht mehr zu dem kleinen Menschenzug hinter mir sprechen konnte, Anfang Januar 2021 in Fürth. Zwei Schwarze Männer vom USK, dem sogeannten Unterstützungskommando, führten meine Kollegin und mich zu ihren Mannschaftswägen. Man würde uns dort die Quittung ausstellen für das Megafon. Was dann über eine halbe Stunde dauerte. Bis dahin hatten sich die Menschen natürlich zerstreut. Rechnung aufgegangen, für die.
Auf dem Weg zu ihren Autos hatten wir ein gutes Gespräch mit den beiden. Ob sie ihren Dienst gerne machen würden und selber dahinterstünden, hab ich sie gefragt. Meine Kollegin erzählte ihnen aus dem Widerstand: «Wir erleben hier eine ganz neues Miteinander. Wir haben ein großes Vertrauen zueinander; jeder ist ehrlich unterwegs. Ich kann jedem ohne weiteres meinen Wohnungsschlüssel geben.»
Das Schweigen der beiden Polizisten war beredt. Unsere Haltungen hätten nicht unterschiedlicher sein können. Verteidigung und innere Absperrung auf der einen Seite, freimütiges Öffnen mehrerer Ebenen auf der anderen. Meine Gefährtin hatte sich erschüttern lassen von diktatorischen Umständen; der Uniformierte meinte weiterhin, ihnen dienstbar sein zu müssen.
Viele Zeitgenossen machen ganz ähnliche Erfahrungen: Altbekannte Menschen sind einem stockfremd geworden, bislang fremden Menschen gegenüber ist man wie selbstverständlich im Du, weil man einen neuen Gleichklang in Wesentlichem entdeckt.
Zum einen:
«Nichts hat mich tiefer erschüttert als die sichtbare Veränderung von Bekannten und Freunden, die man zu kennen meinte, als sie in den Bann des (…) Systems gerieten. (…) Sie wirkten wie Besessene. Sie waren nicht mehr sie selbst. Ihre Charakterveränderung grenzte an Persönlichkeitsspaltung, an Schizophrenie», wie das Hermann Rauschning zu früheren Zeiten beschrieb.
Zum anderen:
«Wir brechen mit der alten Lebensart und hören auf, uns mit der Welt in ihrem derzeitigen Zustand gleichzustellen, weil sie unseren Körper und Geist zu eng umfaßt hält», sondern lassen uns ein «auf eine neue Gruppe von Menschen (…), die wir vorher übersehen, wenn nicht verachtet haben, die uns jetzt aber dazu befähigen, das Erlebnis zur Gewohnheit zu befestigen»; Eugen Rosenstock-Huessy 1955.
Zum einen höre ich viele Klagen darüber, dass man die Mehrheit der Medienhörigen kaum mehr erreicht und nur schwerlich einen rationalen Dialog mit ihnen führen kann. Zum anderen erlebe ich auch selber Vertrauensbeweise, die jedes bisherige Maß übersteigen − von Menschen, mit denen ich zu gewöhnlichen Zeiten nie zu tun bekommen hätte.
Beide Erfahrungen sollten wir nicht falsch bewerten. Hochmut ist ebenso unangemessen wie Kleinmut. «Die» sind so wenig «verloren» wie sich jene für einen resignativen Rückzug eignen. Sondern es ist uns abverlangt, den Zeitenwechsel mit einem Wechsel der Mentalität zu begleiten, das Widerfahrene so gut und so gerne wie möglich in die eigene Biografie hinüberzunehmen, es in ihr fruchten zu lassen.
Halt im Vorletzten oder im Letzten? Dass er in geistig uniformierten Kirchen nicht mehr zu finden ist, dämmert vielen; die Austrittszahlen belegen das eindrücklich. Dass immer mehr Menschen aufbrechen zu einem eigenen lebendigen Glauben an den Auferstandenen, das ist ein paralleles Phänomen. Bekehrung nennt sich dieser innere Systemwechsel. Und der schliesst nach Eugen Rosenstock-Huessy immer vier Dinge ein:
1. Wir brechen mit der alten Lebensart und hören auf, uns mit der Welt in ihrem derzeitigen Zustand gleichzustellen, weil sie unseren Körper und Geist zu eng umfaßt hält — hierin liegt die Bedeutung der christlichen Jenseitigkeit, der Selbstverleugnung, die Christus von seinem Nachfolger verlangte.
2. Wir entdecken die Kraft zu unserem »zweiten Atem« im Leben und zu dem Eingehen einer erfüllenden Bindung.
3. Wir lassen unser Erlebnis wahr werden dadurch, daß wir uns auf eine neue Gruppe von Menschen einlassen, die wir vorher übersehen, wenn nicht verachtet haben, die uns jetzt aber dazu befähigen, das Erlebnis zur Gewohnheit zu befestigen.
4. Wir müssen anerkennen, daß die Kraft und die Gemeinsamkeit von dem Gründer unseres Glaubens stammt. Das Christentum bleibt nur so lange bestehen, wie sich neue Gruppen fortwährend um das immerwährende Erinnern Christi bilden. Es genügt nicht, Christus zu imitieren, es ist ebenso notwendig, dieses Beispiel als des Gründers freie und willentliche Gabe anzunehmen. (zitiert aus «Des Christen Zukunft oder Wir überholen die Moderne», Seiten 143f)
Es ist zwar «noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden», wie Johannes schreibt, doch seit jenem Wechsel «sind wir Kinder Gottes». Man hatte uns gedrängt, wesentlich zu werden. Und so hat es umgekehrt uns gedrängt, Herz wie Wohnung zu öffnen.
«Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.» Paulus in seinem 2. Korintherbrief (5,17).
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Wort zum Sonntag vom 21. Januar 2024: Seufzen oder doch besser Luftholen?
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.