Manche Themen sucht man sich wahrlich nicht selber aus. Die Dringlichkeit, sich ihnen zu widmen bemisst sich auf zweierlei Weisen: an der Anstrengung, die einem abverlangt würde, um vor ihnen in Deckung zu gehen und sie auszublenden, und an der Geschwindigkeit, mit der sich Reflexe als vermeintliche Antworten in den Vordergrund schieben. In beiden Fällen wäre, ist es dran, sich dem Thema zu stellen.
Als ein solches entgegengekommen ist mir in den vergangenen Tagen die Frage nach Christsein und Gewalterfahrungen. Die entsprechenden Situationen sind vielfältig und scheinen massiv zuzunehmen: eine Belästigung oder Bedrohung in unmittelbarer Nähe, Anschläge auf Andersdenkende, der neu aufgeflammte Krieg im Nahen Osten oder auch «nur» die sattsam gefürchtete Nötigung zur «Solidarität».
Erschüttert, gelähmt, ratlos, wütend, angstvoll, verwirrt ... – die spontanen Reaktionen sind ebenso vielfältig wie ihre angedeuteten Auslöser. Für den Christen, der damit direkt konfrontiert ist, tut sich die zusätzliche Frage auf, welches Verhalten denn nun das «glaubensgemässe» sei oder es im Falle des Falles wäre.
Das Gebet, selber nicht in eine solche Situation zu kommen, ist gut und recht. Es dispensiert uns aber nicht davon, sich vorab Rechenschaft zu geben; im Gegenteil: Das Gebet darf dazu führen, genauer hinzuschauen und sich über seine Antwort, seine Verantwortung, klarer zu werden.
«Die andere Wange hinhalten» ist eines jener Bibelworte, die in diesem Zusammenhang unweigerlich auftauchen. Den einen zeigt es offenbar, wie weltfremd das Christentum doch ist; die anderen fordert es zur ultimativen Bewährung ihres Glaubens heraus. Beide Ansichten gehen davon aus, dass sich der Geschlagene in die Rolle eines Opfers zu fügen habe. Damit dürften beide etwas daneben liegen.
Auf die rechte Wange schlägt man mit dem Rücken der rechten Hand – zur damaligen Zeit eine Geste tiefster Verachtung. »Die andere Wange hinhalten» heisst dann, das Gegenüber freimütig zur Entscheidung zwingen: Willst du wirklich schlagen? Damit weicht der Angegriffene weder zurück noch schlägt er zurück, sondern er schaut dem anderen in die Augen und nötigt ihm ein Innehalten ab.
Die Probe aufs Exempel liefert Jesus selbst: Ein Diener des Hohenpriesters schlug Jesus während des Verhörs ins Gesicht. «Jesus antwortete ihm: Habe ich übel geredet, so beweise, dass es übel ist; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?» Johannes 18, Vers 23. Augenhöhe. 1 zu 0 für den Misshandelten.
Das heisst fürs erste, dass dieses Gebot aus der Bergpredigt nicht zu rein passivem Erdulden auffordert. Es zeigt vielmehr den Weg zu einem höchst aktiven gewaltfreien Widerstand auf, mit dem beides unterbrochen wird: die Handlung des Angreifenden selber wie auch eine mögliche gemeinsame Spirale der Gewalt.
Damit werden, wie ich meine, zugleich die Grenzen dieses Wortes deutlich. Es ist keine grundsätzliche Betriebsanleitung für den Umgang mit Gewalt, sondern eine Möglichkeit, trotz und mitten in persönlich erlittenem Unrecht den Täter zur Besinnung zu rufen. Wer sich unmittelbar lebensbedrohender Gewalt ausgesetzt sieht, muss und darf sich anders verhalten.
Andeutungen zu weiteren Stellen im Neuen Testament müssen hier genügen. Zum Beispiel führten die Zwölf um Jesus bei ihren Reisen zwei eigene Schwerter mit sich. «Der Grund war, dass das Land voller Räuber und wilder Tiere war und man auf ihren Reisen einige Verteidigungsmittel mit sich führen musste. Es scheint, dass die Jünger den Sitten des Landes folgten», schreibt ein Ausleger zu diesem Hinweis in Lukas 22, Vers 38. Eines dieser Schwerter war im Besitz von Petrus; Matthäus 26,51. Ähnlich wörtlich könnte auch die Aufforderung von Jesus kurz vorher zu verstehen sein, sich ein Schwert zu kaufen.
Die Bereitschaft zur Selbstverteidigung scheint zum normalen Leben gehört zu haben. Bei der Verhaftung von Jesus selber konnte davon allerdings keine Rede sein. Petrus wollte dem Knecht des Hohenpriesters mit seinem Schwert den Schädel spalten. Ging knapp daneben, aber das Ohr war weg. «Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn»; Lukas 22,51.
Nach dem Matthäus-Evangelium wird Jesus sogar noch deutlicher: «Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen.» Mag sein, dass er hier ein altes Sprichwort zitiert, das Soldaten vor dem Kriegseinsatz warnt. Wichtig beim Einschätzen dieses Wortes sind jedenfalls zwei Aspekte: Die Gegnerschaft war «eine grosse Schar mit Schwertern und mit Stangen» (Lukas 22,47), die jeden Widerstand aussichtlos machte.
Zum anderen sagt Jesus im Folgenden, dass sich Petrus damit gegen Gottes Weg mit Ihm gestellt hätte. Hier und jetzt ging es nicht um Verteidigung, sondern darum, dass das Böse sich an Jesus «vollenden» sollte. «Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? – Und einer von ihnen schlug ...» Falscher Zeitpunkt, falsche Reaktion. Eigenmächtige gute Absicht statt Erkenntnis des jetzt Gebotenen.
Ist daraus abzuleiten, dass heutige Jünger ebenfalls passiv sein sollten, wenn sie gefährliche Situationen miterleben? Meines Erachtens ist die Frage falsch gestellt. Geboten ist Geistesgegenwart, und das im wörtlichen Sinne. Was sagt der Geist, «wenn es drauf ankommt»? Nur schon diese Form der Frage löst jede aufkeimende quietistische Lähmung, die einen zum frommen Zuschauer des Geschehens degradieren möchte.
Denn sie beugt einem unguten Reflex vor, der sich in moralistischem Vor-Wissen von einem Einsatz zugunsten eines Bedrohten freisprechen möchte. Die mögliche zweite Wange des anderen ist nicht das Feigenblatt für meine eigene Furchtsamkeit, und das «Schwert», das ich in irgendeiner Form mitführe, ist nicht per se dazu da, in seiner Scheide zu verrosten.
Sondern: Was sagt »der Geist»? Was ist das nach gesundem Menschenverstand Gebotene, wenn ich mich oder jemand neben mir bedroht sehe? Wie bezeuge ich meine eigene Freiheit als Christ am glaubwürdigsten? Das kann dann heissen, auf eine an sich naheliegende Abwehr zu verzichten und so den anderen zum Einhalten zu bewegen. Es kann auch «Schwert» bedeuten, mit dem ich «dem Rad in die Speichen greife», um ein berühmtes Diktum von Dietrich Bonhoeffer aufzugreifen.
Solche Entscheidungen sind mitunter in Bruchteilen von Sekunden zu fällen, und es ist fast immer die Entschiedenheit selber, die den Durchbruch bringt, und gar nicht unbedingt das gewählte Mittel. Die beiden erläuterten Bibelworte sollten jedenfalls niemand dazu verführen, den Nächsten, der «unter die Räuber fällt», vermeintlich strenggläubig zu übersehen und eine Tugend der unbeschmutzten Hände zu zelebrieren. In Unschuld nämlich wären die nicht zu waschen.
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Wort zum Sonntag vom 1. Oktober 2023: Finger – Wunde – Heilung
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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