Das war wieder eine dieser ganz kleinen Begebenheiten, die einem das fatale Grosse vor Augen führen können.
Ein Postamt im Aargau. Unübersehbar in der Mitte des Raumes hängt an einer Säule der kleine Zettelautomat. Wer an den Schalter will, hat sein Papierchen zu ziehen. Dann wartet man, bis einem die Anzeige den Weg zum Frollein freigibt. So weit, so vertraut, leider.
Nur lief es diesmal etwas anders. Der Apparat hat nicht funktioniert. Damit standen nun sage und schreibe vier Personen gleich mittellos im Raum und waren – horribile dictu – gezwungen, sich wenigstens über Blickkontakt miteinander abzusprechen. Nun, das war eigentlich nicht viel verlangt. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es etwas Gelöstes in den sterilen Raum gebracht hat.
Aber dann geschah es. Just in dem Moment, als ich mich vor dem Panzerglas plazieren durfte, hatte eine andere Mitarbeiterin die Rolle mit den Kundennummern ausgewechselt – und bot doch glatt auch mir noch so einen Schnipsel ein. «Ich bin doch jetzt schon dran», versuchte ich abzuwehren. «Nein, Sie müssen auch eine nehmen», insistierte die junge Dame hinter mir und streckte mir meinen Möchtegern-Passierschein entgegen; in der andere Hand bereits die Kärtchen für die übrigen Kunden.
«Das gibt’s ja nicht! Da mach ich eine Geschichte draus, die kommt ins Internet.» Verwunderung und Schmunzeln in der Gruppe, ein konsternierter Blick hingegen von der Frau. Ich hatte gegen ihr «man (... macht es doch so und nicht anders)» verstossen. Für mein Aufbegehren hatte sie keine Kategorien der Wahrnehmung, und an denen entscheidet sich bekanntlich, ob man eine Sache versteht oder zumindest ein mögliches Verstehen zulässt. In diesem Fall also nicht.
Eine kleine Geschichte nur, die aber doch eine fatale Haltung zeigt: den Gehorsam um des Gehorsams willen. Selber denken muss manchmal gar nicht mehr eigens verboten werden. Es hat sich in vielen Bereichen bereits wie von selbst erübrigt. Die Gebote des «man» ersetzen das eigenständige Leben und Denken.
Darin zeigt sich «im tiefsten Grunde ein Unterordnungsproblem». Schuld daran trügen nicht einmal irgendwelche Vorgaben oder «Systeme», keine politschen und keine technischen, sondern der eigene «Hang zum Subalternen», also das Verlangen nach geistiger Unselbständigkeit.
Walter Bargatzky, von dem diese Analyse stammt, erkennt in ihm die Ursache für «die Arroganz des kleinen Mannes», für seine irrationale Überheblichkeit, mit der er anderen begegnet, weil er sich im Dienste eines Grösseres versteht, das er nicht hinterfragt. «Nur der Kleine ist im Grossen unersättlich und hält den Wahn für Macht», schreibt er in seinem Heftchen «Schöpferischer Friede».
Woran genau dieser Wahn sich dann festmacht, das kann schnell wechseln. Hauptsache, es hilft einem dabei, eine eigene Leere zeitweise zu überspielen. Bargatzky spricht hier von den «Halbgebildeten, denen die angeborene Enge den Blick für das Ganze verwehrt». Kurz gesagt: «Das ist einfach so. Das machen wir hier so. Daran hält man sich einfach.»
Herunterbuchstabiert in den Alltag eines Aargauer Postamtes, sind das dann die Wartezettel für einen Kunden, der bereits am Schalter steht.
Es sind diese «die kleinen Füchse, die den Weinberg verwüsten», wie es in der Bibel heisst; es ist «ein wenig Sauerteig», das «den ganzen Teig durchsäuert». Es sind diese ganz unscheinbaren Übergriffe, die die Schlinge um das freie Miteinander enger ziehen. Und es ist mitunter nur ein kleiner Protest, der ein Zeichen für die Freiheit und gegen unbedachten Gehorsam setzen kann.
«Die Zähmung ist kein stolzes Resultat für einen Christen.» Emmanuel Mounier
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Wort zum Sonntag vom 4. Juni 2023: Freiheit als Festival und als «Gesetz»
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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