Im Hinterzimmer einer gediegenen Gaststätte knapp außerhalb von Berlin brummt es an diesem sonnigen Sonntag. Um die 50 Personen sitzen an einer großen Tafel und führen angeregte Gespräche. Die Energie ist positiv und mitreißend und jeder scheint sich sofort willkommen zu fühlen, selbst wenn er zum ersten Mal vorbeikommt. Blickt man in die Runde, so lässt sich das Motto des Treffens am Äußeren der Anwesenden kaum ablesen. Ein breites Spektrum der Gesellschaft ist vertreten: Eine Frau im adretten Kostüm scherzt mit einem jungen Mann im Kapuzenpulli. Eine Rechtsanwältin hat ihre ganze Familie und einige Freunde mitgebracht, alle suchen sich einen freien Platz und stellen sich lächelnd bei ihren Sitznachbarn vor.
Diese ungewöhnliche Veranstaltung nennt sich «Schwurbel-Lunch» und findet einmal im Monat statt. Was die Menschen vereint ist, dass sie den engen Meinungskorridor – begrenzt durch Mainstream-Medien und politische Entscheidungsträger – für sich wieder erweitert haben und sich intensiv mit Themen wie Demokratie, Gesundheit, Frieden oder Wirtschaftssystemen befassen. Sie gehen zu Vorträgen, besuchen alternative Medien-Portale und lesen Bücher von Oppositionellen. «Es ist befreiend, dafür wenigstens einmal im Monat nicht schief angeschaut zu werden. Man setzt sich einfach auf den nächsten leeren Stuhl und wird sofort akzeptiert», erzählt Martin Adam, einer der Organisatoren.
Digital und analog
Das erste «Schwurbel-Lunch» im «Alten Krug Kallinchen» fand an einem Sonntag im Oktober 2023 statt. «Damals dachten meine Freundin und ich, dass, wenn sonst keiner kommt, wir immerhin gut essen werden.» Der Web- und App-Entwickler hatte in seinen Netzwerken und Online-Gruppen zu dem Treffen eingeladen, Anmeldung war keine notwendig.
«Wir hatten mit vielleicht fünf Gästen gerechnet, doch dann waren wir beim ersten Mal gleich 45. Wir sahen, wie gut es allen tut, sich mit Menschen frei auszutauschen, die ein ähnliches Weltbild haben, beziehungsweise offen sind, und bei denen wir mit unserer Meinung nicht herumdrucksen müssen. Im Alltag schränken wir uns ja meistens ein.»
Obwohl er als Entwickler seit vielen Jahren beruflich fest im Digitalen verankert ist, sehe er, «wie wichtig es ist, einfach zusammenzusitzen und zu reden». Inzwischen hat Adam eine eigene Veranstaltungs-Plattform «Emma-Events» programmiert und auch das dahinterliegende Ticketing- und Bezahlsystem entwickelt. «Ich möchte wissen, wo die Daten landen, und nur wenn ich jede Zeile Code selbst entwickle, kann ich das kontrollieren und so die sensiblen Informationen unserer Benutzer schützen», erklärt Adam. «Interessierte können sich für das Schwurbel-Lunch online anmelden, die Teilnahme bleibt gratis und es besteht auch keine Konsumierungspflicht. Wir wollen nur ungefähr wissen, wie viele kommen, damit wir die Tische entsprechend zusammenstellen.»
Aber «Emma-Events» organisiert weitere eigene Veranstaltungen oder kümmert sich auch um den Kartenverkauf für andere Veranstalter. Adam betont:
«Wir wollen Menschen über das Digitale analog zusammenbringen.»
Er nennt es «Emma-Prinzip», dabei gehe es darum, regional vernetzt und verbunden zu sein, «denn nur so entsteht das notwendige Vertrauen». Er wolle die Menschen, die sich «außerhalb des Mainstreams bewegen», aus ihren Rückzugsorten herausholen, «sie in die Selbstermächtigung bringen», damit sie einander helfen und gemeinsam Lösungen entwickeln. «Im Idealfall gibt es eine Emma vor Ort als regionale Kontaktperson, sie kennt unabhängige Alternativen und kann diese weiterempfehlen», erklärt Adam. Dabei könne es um die Themen Gesundheit, Lebensmittelversorgung, Zahlungsmethoden oder auch Bildung gehen.
«Denn wir müssen jetzt schon mit dem Wiederaufbau beginnen.»
«Menschlich Wirtschaften»
Bei «Emma-Events» gab es zum Beispiel auch Karten für das «Symposium Falkensee», das Mitte April bereits zum dritten Mal standfand und bei dem der Journalist Dirk Pohlmann, der Sozialwissenschaftler Ulrich Gausmann und der Biologe und Filmemacher Markus Fiedler sprachen. Auch Ehrenamtliche der Genossenschaft «Menschlich Wirtschaften» hatten einen Informationsstand, verteilten Broschüren und beantworteten Fragen.
«Viele Menschen aus dem medizinischem Bereich oder dem Bildungswesen wenden sich an uns. Wir sind wie ein Magnet», sagt Ines Dietrich. Sie arbeitet als Job-Coach und engagiert sich seit zwei Jahren unentgeltlich bei der Genossenschaft, inzwischen gehört sie dem Vorstand an. Ihr zufolge sind die meisten, die an den Infotisch kommen, an ihrer alten Arbeitsstelle unzufrieden, weil bei Corona unkritisch alles mitgemacht wurde. «Sie fragen, was sie tun können, wo sie sich einbringen können oder suchen Kooperationspartner.»
«Menschlich Wirtschaften» ist in ganz Deutschland tätig und wurde 2021 von der Betriebswirtin und Steuerberaterin Sabine Langer gegründet. Mittlerweile hat die Genossenschaft rund 6.000 und das erweiterte Netzwerk «Menschlich Werte Schaffen» 8.000 Mitglieder, die sich in Fach- und Chatgruppen austauschen und an Konzepten arbeiten.
Die Genossenschaft will durch die unterschiedlichen Projekte aus eigener Kraft wachsen. Sie organisiert sogenannte Crowdfundings, wie zum Beispiel für eine Ölmühle, eine freie Schule auf Usedom oder für den eigenen Laden in Stralsund, wo es regionale Produkte, ein Café und Veranstaltungen gibt.
«Eigentlich ist alles möglich, so lange unser Werteleitbild, das im Sinne der Sozialen Dreigliederung steht, als Grundlage dient», erklärt Dietrich. Es ginge darum, tragfähige Projekte an den Start zu bringen und Menschen zu verbinden, die ähnliche Konzepte umsetzen. So konnte die Genossenschaft zum Beispiel das Ehepaar Jutta und Axel Velhagen mit einem davor durch die Genossenschaft unterstützten Projekt in Kalamata vernetzen. Die beiden holten sich in Griechenland das notwendige Wissen rund um biozyklische Humuserde und eröffneten vor kurzem in Hessen ihre eigene Anlage «Zeit zum Wenden», wo sie hochwertiges Pflanzsubstrat herstellen und vertreiben.
Wanderjahr und Pflegebauernhof
Auf den Gesundheitsbereich angesprochen, erwidert Dietrich schmunzelnd:
«Wenn es um die Entwicklung neuer Strukturen geht, dann sind wir wirklich im Schweinsgalopp unterwegs. Es geht um die Schaffung von Möglichkeiten, um in einem selbst gewählten Umfeld selbstbestimmt miteinander zu handeln.»
Viele Ärzte würden sich an die Genossenschaft wenden, um Mediziner zu finden, mit denen sie sich objektiv austauschen können. Der Fachbereich Gesundheit wird von Wolfgang Wodarg beraten und arbeite aktuell daran, «Gesundheitsoasen» zu schaffen, «wo der Dienst am Menschen mit moralischen Grundsätzen verbunden ist». Im Pflegebereich diene ein bestehender Pflegebauernhof als Orientierung, erklärt Dietrich weiter, und es werde überprüft, ob sich ähnliche Konzepte verwirklichen lassen und so vielleicht Synergien zwischen kleinen Höfen und dem Pflegewesen genutzt werden können.
In Zusammenarbeit mit Unternehmen entstehe derzeit das «Wanderjahr» für junge Menschen, die die Schule bereits verlassen haben oder die in den Sommerferien einen Beruf kennenlernen möchten, so Dietrich. «Auch dabei wird die Genossenschaft von einigen der vielen Pädagogen unterstützt, die sich auf der Suche nach echten Alternativen an uns wandten.»
Ähnlich flott und bewegt wird es demnächst auch im Hinterzimmer des «Alten Krugs» hergehen. Wenn nämlich «Emma-Events» gemeinsam mit der Kennenlern-Plattform «Schwurbeltreff» hier das erste «Speed-Schwurbeling» veranstaltet. Dabei geht es so wie beim «Schwurbel-Lunch» ums Kennenlernen – allerdings im Schnelltempo: Nach einer kurzen Zeit wechselt der Sitznachbar, um so mit möglichst vielen ins Gespräch und ins Schwärmen zu kommen.
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