Klar, es ist alles andere als ein einfaches und selbstverständlich ein sehr wichtiges Thema: der sexuelle Missbrauch. Darüber können Menschen psychisch zerstört oder lebenslang schwerst geschädigt werden.
Und doch sollte es gestattet sein, über die Art und Weise, wie über ein solches Thema gesprochen wird, nachzudenken, wenn Missbrauchsvorwürfe im Raum stehen, ohne dass handfest geklärt ist, ob sie eine faktische Grundlage haben oder nicht.
Erwähnt sei hier der aktuelle «Fall» des britischen Komikers Russell Brand, der auch als Politaktivist agiert und dabei die Corona-Politik scharf kritisiert hat. Nun sieht sich der 48-Jährige mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert: sexuelle Gewalt, emotionaler Missbrauch und Vergewaltigung. Der Comedian wiederum weist die Vorwürfe zurück und sieht einen «koordinierten Angriff» der Medien.
Joanna Williams hat nun in ihrer Kolumne «Der Fall Russell Brand ist kein Sieg für die Frauen» für das Medium Spiked einen Blick «von oben» auf das Thema und dabei auch einen Blick in die jüngere Geschichte gewagt.
Hier hat sie, was ihr eigenes Geschlecht angeht, einen aussergewöhnlichen Wandel ausgemacht: vom Girl Power der 1990er Jahre zum Post-MeToo-Opferfeminismus. Und sie fragt (sich), ob den Frauen mit diesem Wandel wirklich gedient sei. Ihre Antwort:
«Die Skandale wie die um Russell Brand zeigen, wie sich diese massive Verschiebung hin zu einem weiblichen Opfer-Narrativ auswirkt – und das ist nicht gut für Frauen.»
Um zu ermessen, wie viel sich in kürzester Zeit verändert hat, solle man sich nur mal vergegenwärtigen, dass es noch gar nicht so lange her sei, dass Brand mit seinen Promiskuitätstaten den Durchbruch schaffte. Die Zeitung Sun, die massgeblich dazu beigetragen hat, dass die aktuellen Vorwürfe gegen Russell «die Runde» machen, hatte ihn von 2006 bis 2008 gar dreimal hintereinander zum «Shagger of the Year», also zum «Ficker des Jahres» gekürt.
«In den 2000er Jahren konnte Channel 4 durch Brands anzügliche Possen Zuschauerzahlen und Einnahmen erzielen. Heute hingegen kann ein überschwänglicher Kuss eine Karriere beenden und zu einem Gerichtsverfahren führen.»
Da stelle sich die Frage, ob dieser Kulturwandel im Interesse der Frauen sei. Mitte der 2000er Jahre hätte der Feminismus zwischen der Girl-Power-Ära der 1990er Jahre und den Girlboss-Mantras der 2010er Jahre festgesteckt. Dabei versteht man unter dem Begriff «Girlboss» eine selbstbewusste Frau, die beruflich erfolgreich ist oder ihre eigenen Ambitionen verfolgt, anstatt für andere zu arbeiten oder sich anderweitig im Leben zu arrangieren. «Der Begriff wird auch mit sarkastischem und abwertendem Unterton verwendet», wie es auf Wikipedia heisst, «um Frauen zu bezeichnen, die versuchen, ihr berufliches Leben zu verbessern, indem sie dieselben missbräuchlichen und materialistischen Praktiken anwenden, die in der patriarchalischen Gesellschaft üblich sind.»
Wie Williams meint, hätten die Eskapaden der Frauen aus der Serie «Sex and the City» sowohl die Damen begeistert als auch die «Lean In»-Feministinnen («lean in» bedeutet so viel wie «häng dich rein» und ist verbunden mit dem Rat, innere Barrieren zu überwinden, die dich auf dem Weg die Karriereleiter nach oben behindern könnten).
«Und mit dem Aufkommen von Männermagazinen und Reality-TV – vor allem angefeuert durch Big Brother, das auch auf Channel 4 lief – konnten Frauen Ruhm und Reichtum finden, indem sie jung, attraktiv und ‹bereit für etwas› waren», so Williams. «Es mag heute nicht mehr in Mode sein, das zu sagen, aber für viele junge Frauen war dies eine Zeit des Spasses und der Freiheit, und nicht der Ausbeutung und des Missbrauchs.» Und weiter:
«All das änderte sich 2017. Die #MeToo-Bewegung nahm Fahrt auf, als gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein öffentlichkeitswirksame Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe erhoben wurden. Der Schwerpunkt verlagerte sich schnell auf die Anprangerung eines viel breiteren Spektrums männlichen Verhaltens – von Vergewaltigung bis hin zu unerwünschten Knieberührungen. Dies spiegelt sich auch im Skandal um Russell Brand wider, bei dem die schockierendsten Anschuldigungen gegen ihn – Vergewaltigung und sexuelle Nötigung – neben Vorwürfen von nicht strafbarem Fehlverhalten und Fällen von einvernehmlichem, aber bereutem Sex auftauchen.»
Der Knackpunkt sei nun, dass auch nach #MeToo von Frauen erwartet werde, dass sie sich ändern – doch vor allem dahingehend, dass sie die Rolle des Opfers übernehmen. «Dieselben Fernsehsender und Zeitungsspalten, die das Publikum einst mit Geschichten über Drogen, Alkohol und Sex begeisterten, berichten nun von verzweifelten Frauen, die durch eine unangemessene Bemerkung oder einen unerwünschten Blick zerstört wurden», so Williams. «Frauen wurden von Sexualobjekten zu Sexualopfern.»
Einige würden zweifellos argumentieren, meint Williams, dass dies ein Fortschritt sei – also dass Männer zur Verantwortung gezogen würden und Frauen eine Stimme bekämen. «Aber seien wir doch mal ehrlich. Innerhalb von zwei Jahrzehnten von Girl Power zu Opferfeminismus zu wechseln, ist kein grosser Fortschritt für Frauen», so die Auffassung der Spiked-Kolumnistin.
So sei man damit nicht nur weit davon entfernt, die Handlungskompetenz von Frauen anzuerkennen. Auch gehe der Opferfeminismus mit dem Ruf nach einer stärkeren Überwachung der Interaktionen zwischen Männern und Frauen einher.
«Angst und Misstrauen beherrschen nun den Tag», gibt Williams zu bedenken. «Die derzeitige Mode, die sexuelle Revolution in den Schmutz zu ziehen, führt dazu, dass Frauen nicht mit Macht versehen, sondern infantilisiert werden, indem man davon ausgeht, dass sie an der Universität Einverständniserklärungen, bei Verabredungen Anstandsdamen und an Filmsets Intimitätscoaches benötigen.»
Eine weitere differenzierte Analyse zum «Fall» Russell veröffentlichte Unherd: «Könnten die Verteidiger und Ankläger von Russell Brand beide Recht haben? Die Vorwürfe sind schwerwiegend – aber es geht immer um Politik.» Darin heisst es:
«Die öffentliche Meinung polarisierte sofort zwischen Brand-Hassern, die davon ausgehen, dass die Anschuldigungen wahr sind, und Brand-Befürwortern, die den Bericht als Rufmord ansehen. Einige behaupten, es handele sich um eine politisch motivierte Rache dafür, dass man ‹das System in Frage stellt›. Es ist jedoch möglich, dass sie alle Recht haben. Und in diesem Fall betrifft die einzige klare Lehre aus der Geschichte weder Brand noch seine vermeintlichen Feinde, sondern vielmehr unsere kollektive öffentliche Heuchelei, wenn es um Sex und Macht geht.»
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