Josep Borell, EU-Aussenminister, bezeichnet die EU und die USA als den Garten der Welt. Alles, was hingegen ausserhalb liegt, ist für ihn Dschungel. Wohin ich aber in Europa blicke, sehe ich vor allem Dschungel (…) – insbesonders wenn europäische Städte betroffen sind.
Die Dschungelbrände in Frankreich haben Belgien und jetzt auch die Schweiz erreicht! – genau genommen das beschauliche und wenig aufregende Lausanne. Der Funken, der in Frankreich alles in Brand setzte: Die Erschiessung eines 17-Jährigen, der sich bei einer Kontrolle dem Zugriff der Polizei widersetzen wollte.
Dafür und weil er illegal mit einem Mietauto fuhr, wurde er erschossen. Die Miete hatte er offenbar bezahlt und es nicht einfach entwendet. Kleine Randnotiz: Der 17-jährige Nahel war unbewaffnet. Spielt bei einem solchen Vorfall seine Religion tatsächlich noch eine Rolle? Oder dient sie nicht vielmehr dazu, den Vorfall noch mehr politisch zu instrumentalisieren?
Ist überhaupt alles nur ein dummer Zufall? In Frankreich leben viele nordafrikanische Muslime und andere Afrikaner südlicheren Ursprungs. Handelt es sich bei diesem Zwischenfall nur um einen dummen Zufall? Oder frisst der (…) jahrhundertealte französische Kolonialismus nun das eigene Territorium der einstigen Grand Nation?
So sehr, dass sich geradezu die Frage aufdrängt – nach all dem, was wir in den letzten Jahren in Frankreich an Unruhen gesehen haben: «Et si la Françe n’existait plus?»
Ipso facto: Jeder Mensch, der in den französischen Kolonien geboren wurde, war automatisch Franzose. Dies, weil Frankreich diese Kolonien förmlich inkorporiert hatte.
Geboren als Franzose mit dem Recht, in Frankreich zu leben und zu arbeiten – und dass mit oder meistens ohne vernünftige Perspektive, ausser den Müll aus den französischen Elendsquartieren zu entsorgen.
Viele Vorfahren der hier nun randalierenden Jugendlichen sind einst als billige Arbeitskräfte nach Frankreich gekommen. Und dies nicht aus Fürsorge, nicht aufgrund eines schlechtem kolonialen Gewissens oder anderen ethischen Prinzipien der französischen Hochkultur. Der Grund: Schweiss, manchmal Tränen und wenn nötig auch etwas Blut aus ihnen herauszupressen.
Parkiert wurden sie in Ghettos, genannt «les Banlieues». Vorstädte des Grauens, die fernab von der stets gerühmten (…) und besungenen Stadt der Liebe Paris (…) liegen.
Fortan hausten sie in besseren Rattenlöchern, die nicht mal von den meist stolzen Bewohnern der südafrikanischen Townships auch nur eines Blickes gewürdigt würden: Guguletu, Kayamandi, Kayalithsa, Nanga, Langa oder Soweto (…) ich hab sie alle besucht. Es sind Townships voller Gewalt, Drogen, Waffen, aber auch von tollem Handwerk, Musik, Farben und Tradition.
Dahinter sieht man aber auch grosse kindliche Kulleraugen. Sie schauen einen an als würden sie einen fragen: Muss ich später auch raus in diese so unmenschliche Welt?
Vielleicht fragen sich das die Kinder und Kindeskinder der ursprünglichen Erstimmigranten auch dauernd. (…) Ausgestattet einzig mit der Perspektive, nirgendwohin gehen zu können. Nicht alle sind sie mit den Talenten eines Kylian Mbappé, Paul Pogba oder Marcus Thuram gesegnet.
Es sind unglaubliche Szenen: Autos (…) werden aus Verkaufsgeschossen geworfen, Apple Stores geplündert. In den Strassen Frankreichs bekämpfen bis aufs Blut gereizte, nicht selten wild gewordene Polizisten die Wilden.
Dies alles in einer Orgie der Gewalt, die es aufs Heftigste abzulehnen gilt, denn französische Bürger leben momentan in einem Terrorstaat. Übrigens, für alle Zuschauer, die schon lange nicht mehr im Elsass waren: Ich spreche die ganze Zeit von unserem Nachbarland.
All das ist zu verurteilen: Die Gewalt, die Plünderungen, die Gefährdung von Menschenleben. Aber was macht Staatspräsident Emmanuel Macron unter der Obhut seiner Brigitte?
Er geht mit ihr in der grössten Feuerbrunst an ein Elton John-Konzert. Hoffentlich hat der Grossmeister nicht auch noch «Candle in the Wind» gespielt. Es gibt schon genug Flammen in Frankreich!
Wenn es wenigstens ein Konzert von Deep Purple gewesen wäre: Dann hätte Macron den «Smoke on the Water» der Seine, der Rhone und des Rheins sehen können.
Macron telefoniert mit Justin Trudeau, um die Lage, nein, nicht etwa in Frankreich, sondern in Haiti zu besprechen. Haiti, eine ehemalige französische Kolonie, bis sich die Sklaven dort gegen ihre Herrscher erhoben haben.
Frankreich ist aber nicht nur in Frankreich problematisch. Von den französischen Atlantikküsten brechen zigtausende Immi- und dann Emigranten in Richtung britische Küsten auf.
In Gummiboten, manchmal auch durch den Tunnel, um Grossbritannien, eine andere einstige riesige Kolonialmacht mit ähnlichen, auch unglaublich kostspieligen Problemen zu invadieren.
Trotz Milliardenzahlungen an Frankreich, um diese Bewegungen zu stoppen, passiert nichts. Die Franzosen stecken das Geld ein und gehen zur Tagesordnung über. Aber – bloss welcher Tagesordnung denn?
Macron war vor circa zwölf Monaten in Teheran (Iran). Dort verkündete er selbstbewusst, dass der Tod einer jungen iranischen Dissidentin ein guter Grund für eine Revolution im Iran wäre. (…)
In Frankreich aber wiederum ist der Tod eines jungen Menschen – der sich ohne Zweifel falsch verhalten hat, was wir mit 17 Jahren alle natürlich nie getan haben – Grund für eine politische Instrumentalisierung von erschreckender Hilfslosigkeit. (…)
Im Iran ist man für eine Revolution. In Frankreich aber soll niemand das Recht haben, gegen den Tod eines genauso jungen Menschen zu protestieren? Es leben die doppelten Standards!
Was lernen wir in der Schweiz, nicht nur in Lausanne, daraus? Vielleicht, dass eine ungeordnete und schlecht betreute Migration genau in solchen Szenen münden wird. Szenen, wie wir sie leider täglich machtlos und ratlos in Europa medial ertragen müssen.
All dies ist zum Wohle von gar niemandem (…). Und nun, Monsieur y Señor Borell: China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika sind nicht einfach nur Dschungel. Zwar geht dort die Sonne definitiv nicht immer auf. Aber sie wird zumindest auch nicht zu einem Feuerball. (…)
Hoffen wir, dass wir nicht in mittelbarer Zukunft auch die Frage stellen müssen: «Et si l’Europe n’existait plus?» Vieles deutet leider darauf hin.
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Dieser Text ist der leicht gekürzte Newsletter von Marco Caimi. Caimi ist Arzt, Kabarettist und Publizist: www.caimi-report.ch
Öffentliche Auftritte unter www.megaschwiizer.ch
Seit Ende Mai veröffentlicht Caimi auf seinem YouTube-Kanal einen Mittwochskommentar.
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