Vor genau 79 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Vernichtungslager Auschwitz durch die sowjetische Rote Armee befreit. Am gleichen Tag ein Jahr zuvor, am 27. Januar 1944, hatten die sowjetischen Truppen die deutsche faschistische Blockade von Leningrad, das heutige St. Petersburg, beendet.
An beide Völkermordverbrechen wird in Deutschland unterschiedlich erinnert. Seit 1996 ist der 27. Januar der offizielle «Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus». International wurde der Tag 2005 von der UNO zum «Holocaust-Gedenktag» erklärt.
Und so steht in Deutschland vor allem das Gedenken an die Millionen Opfer der faschistischen Judenvernichtung im Mittelpunkt. Das Kriegs- und Völkermordverbrechen an den Einwohnern von Leningrad gerät immer mehr in Vergessenheit. Dabei sind in Folge der 872 Tage faschistischer Blockade der Stadt an der Newa seit dem 8. September 1941 mehr als eine Million Menschen gestorben. Hinzukommen noch einmal Hunderttausende sowjetische Soldaten, die im Kampf um die Befreiung der Stadt fielen.
Diesem Ereignis vor 80 Jahren gedachten am Samstagvormittag eine Gruppe Deutscher und Russen gemeinsam am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Sie legten Blumen nieder, erinnerten an das Leid der Leningrader und ehrten die sowjetischen Soldaten. Von ihnen fanden etwa 7000 ihre letzte Ruhestätte in der Anlage des Ehrenmals. Sie alle hatten auch an der Befreiung Leningrads teilgenommen, sagte Oleg Jeremenko.
Die Gruppe auf dem Weg zum Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, links Oleg Jeremenko (Foto: Éva Péli)
Jeremenko ist nicht nur ehemaliger Offizier der russischen Armee, sondern auch Enkel von Nikolai G. Ljatschenko, der als Kommandeur der 90. Schützendivision der 2. Belorussischen Front der Roten Armee an der Befreiung Leningrads beteiligt war. Am Sowjetischen Ehrenmal gedachte er jener, die «tapfer für die Befreiung ihrer Heimatstadt und die Befreiung Europas gekämpft haben». Er erinnerte ebenso an die Menschen und Soldaten, «die in Leningrad jeden Tag mit der Hungersnot, der Kälte und allen Schrecken der Blockade gekämpft haben», die das mit ihrem Leben bezahlten oder es überlebten.
Unfassbare Schrecken
Die Schrecken der faschistischen deutschen Blockade von Leningrad haben die beiden Schriftsteller Ales Adamowitsch und Daniil Granin in ihrem 1984 erstmals erschienenen «Blockadebuch – Leningrad 1941 – 1944» beschrieben. Der Aufbau-Verlag hatte das Buch 2018 in einer neuen deutschen Übersetzung wieder veröffentlicht.
«Konkret waren die Dunkelheit, der Hunger, die Sirenen, die Bombeneinschläge – unbegreiflich, warum all das über die Menschen hereingebrochen war», so die beiden Autoren in dem Buch, in dem sie die Erinnerungen von Überlebenden des Leides festhielten.
«Die Kindheit der Kleinen fand ein jähes Ende. Später fiel es diesen kleinen Greisen nicht leicht, ins Leben, in die Kindheit, zu sich selbst zurückzufinden.»
Granin hatte am 27. Januar 2014 vor dem deutschen Bundestag in dessen damaliger Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus an die Blockade und ihre Schrecken erinnert. Er sprach von den schrecklichen Ereignissen, aber ebenso von den Beispielen menschlichen Mitgefühls:
«Häufig war es so, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Die in den Schlangen anstanden, Brennholz organisierten, Kranke pflegten, ein Stückchen Brot oder Zucker teilten (…) Natürlich, auch die Retter starben, aber mich hat erstaunt, wie ihnen ihre Seele geholfen hat, sich nicht zu entmenschlichen.»
Verschwiegenes Kriegsverbrechen
Die Blockade von Leningrad war ein geplantes Kriegsverbrechen, wie Dokumente belegen. «Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen», wurde in einer geheimen Direktive der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941 erklärt.
«Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse an dem Fortbestand dieser Großsiedlung. Es ist beabsichtigt, die Stadt eng einzuschließen und durch Beschuss mit Artillerie aller Kaliber und laufendem Bombeneinsatz dem Erdboden gleich zu machen. Sich aus der Lage der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht unsererseits nicht.»
In der Bundesrepublik war davon fast nichts zu erfahren, berichtete die Schauspielerin Christa Weber im Gespräch. Sie gehörte zu den etwa 30 Menschen, die am Samstag einer spontanen Einladung zum Sowjetischen Ehrenmal gefolgt waren. Es sei ihr «ein Bedürfnis gewesen, dabei zu sein und der vielen Opfer zu gedenken, die durch die deutsche Seite umgekommen sind».
Sie bezeichnete die aktuelle deutsche Politik, die heute wieder «Russland ruinieren» wolle, als «Schande». «Das ist so geschichtsvergessen. Deshalb ist es mir ein Bedürfnis zu zeigen, dass es auch Deutsche gibt, die anders darüber denken, und deshalb bin ich heute hier.»
Gedenken an das Ende der Blockade von Leningrad (Foto: Éva Péli)
Die Schauspielerin, die auch DKP-Mitglied ist, bezeichnete es als «Heuchelei», dass vorrangig an den faschistischen Völkermord an den Juden erinnert wird. «Was in Leningrad passiert ist, war auch ein Völkermord», betonte sie und erinnerte daran, dass etwa 27 Millionen sowjetische Menschen dem faschistischen Krieg zum Opfer fielen. Das werde heute nicht mehr erwähnt, beklagte sie und warnte davor, die Opfer aufzuteilen.
Wider die Kriegshetze heute
Für Weber ist das nicht nur Heuchelei, sondern auch Absicht: «Sie wollen eigentlich nochmal einen Krieg gegen Russland führen, den Dritten Weltkrieg. Das können sie nicht verkraften, dass sie da verloren haben, und jetzt geht es das dritte Mal gen Russland.»
Anders als in der alten BRD war in der DDR die Erinnerung auch an die Blockade von Leningrad Teil des Geschichtsunterrichts in der Schule. Und so waren vor allem Menschen zum Ehrenmal im Berlin-Treptow gekommen, die in der DDR aufwuchsen und lebten, vor allem ehemalige Soldaten.
Thomas Schmidt war einer von ihnen. Er beschrieb die Motivation für sein Kommen so:
«Wir wollen einfach zeigen, dass es in Deutschland noch Menschen gibt, die das nicht vergessen haben, die diese Taten der Sowjetarmee und die grossen Opfer der Leningrader Blockade nicht vergessen haben. Und die zeigen wollen, dass es aktuell nur eine Alternative gibt: Frieden mit Russland, Schluss mit den Sanktionen und endlich eine vernünftige Politik zum Wohle der Menschen in diesem Land und vor allem auch in Europa!»
Der ehemalige DDR-Offizier kritisierte, dass die deutschen Medien «nur noch Kriegshetze und nur noch Russophobie» verbreiten, was bei vielen Menschen ankomme. «Und wir wollen eben genau demonstrieren, dass es hier noch Menschen gibt, die dieser Linie nicht folgen.»
Zum Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen im Verhältnis zu Russland sagte Schmidt, dass DDR-Bürger «die gelebte Freundschaft in vielen Jahren» miterlebt hätten. «Sie haben die Menschen kennengelernt, haben das Land zum grossen Teil kennengelernt und wissen, dass der Russe eben keinen Krieg will mit Europa und mit Deutschland.» Die Freundschaft, die nicht nur offiziell propagiert wurde, hätten viele aus der DDR nicht vergessen.
Gewollte Unterschiede im Gedenken
Auch für Hermann Kopp aus Düsseldorf war es ein «besonderes Bedürfnis», am Ehrenmal dabei zu sein, wie er sagte. Er hatte zufällig davon erfahren und am Vorabend im Berliner «Coop Anti-War Café» eine Veranstaltung organisiert, die sich mit der Blockade von Leningrad beschäftigte. Kopp war von 2013 bis 2021 Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung.
Hermann Kopp (Foto: Éva Péli)
Das Thema beschäftigt ihn, seit er 1972 das erste Mal in der Sowjetunion und dabei auch im damaligen Leningrad war, wie er berichtete. «Die Bundesbürger haben davon normalerweise gar nichts erfahren. Jedenfalls bis vor kurzem.» Er verwies auf das Buch «Das belagerte Leningrad 1941-1944» des Historikers Jörg Ganzenmüller aus dem Jahr 2005, mit dem sich erstmals ein westdeutscher Historiker mit der Blockade beschäftigt habe.
Er selbst habe sich seit den 70er Jahren damit beschäftigt und fand es immer wichtig, daran zu erinnern, sagte Kopp. «Aber bis heute ist es so, dass im Westen kaum jemand etwas darüber weiss.» Das gelte selbst für die Friedensbewegung, stellt er fest. Zum Unterschied in der Erinnerung an die faschistischen Verbrechen sagte er, dass jetzt die Solidarität mit Israel «ganz oben steht», während «nach wie vor und wieder Russland den Hauptfeind darstellt für den deutschen Imperialismus. So deutlich muss man das sagen.»
Deutliche Worte fand auch Elke Zwinge-Makamizile vom Freidenker-Verband, als sie am Ehrenmal an die Befreiung von Auschwitz und von Leningrad erinnert:
«Nie hat eine Stadt Vergleichbares erlitten. 40 Grad Frost. Hunger und Delirium, Menschen assen Katzen, Ratten, Sägemehl, Leim und Menschenfleisch, unvorstellbar!?
Sie erinnerte auch daran, dass trotz allem am 9. August 1942 15 völlig entkräftete Musiker in der belagerten und zerstörten Stadt an der Newa Schostakowitsch’ 7. Sinfonie aufführten, was über Lautsprecher überall zu hören war. «Es war ein Fanal gegen die Barbarei und bestärkte den unglaublichen Lebenswillen zum Überleben des Menschlichen.»
Botschaft nach Russland
Und sie zitierte aus der Inschrift an der Granitmauer des Mahnmals auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof in St. Petersburg: «Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.» Und fügte hinzu: «Deshalb sind wir hier.»
Oleg Jeremenko bedankte sich sichtlich bewegt bei jenen, die seiner spontanen Einladung am Vorabend bei der Veranstaltung im «Coop Anti-War-Café» zum Ehrenmal in Berlin-Treptow gefolgt waren. Auch für ihn sei es eine Ehre, gemeinsam mit deutschen Freunden an das Ende der Blockade von Leningrad und die Opfer zu erinnern.
Er schickte eine Videobotschaft von dem spontanen Gedenken aus Berlin nach Russland, damit dort bekannt ist, dass es in Deutschland nicht nur Feinde Russlands, sondern gerade in den aktuell schwierigen Zeiten weiterhin Freunde des Landes gibt. Da sei auch ein wichtiges Zeichen für die Veteranen des Krieges und auch des Kampfes gegen die Leningrader Blockade.
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