Es war zu erwarten: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas führt dazu, dass die schon vorher gerne angewendete Antisemitismus-Keule noch häufiger auf Kritiker der israelischen Palästina-Politik niederschlägt.
So löste der slowenische Philosoph Slavoj Žižek laut der Zeit durch seine Rede bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse sogar Tumulte aus. Mehrere Gäste hätten den Saal verlassen. Sein Vergehen: Er wies auf die humanitäre Situation der Palästinenser hin und betonte, dass dies der Nährboden für Terror sei. Es nützte nichts, dass Žižek mehrmals explizit unterstrich, dass dies den Terror keineswegs entschuldige. Eine solche Analyse sei jedoch notwendig, um eine Lösung in dem Konflikt zu finden.
Einen weiteren Philosophen traf kürzlich die Antisemitismus-Keule, in diesem Fall allerdings vor allem aufgrund eines Fehlers: Unter anderem hatte Richard David Precht im Podcast «Lanz & Precht» behauptet, ihre Religion erlaube es orthodoxen Juden, nur in bestimmten Berufen zu arbeiten. Precht sah sich aufgrund der Empörung wegen dieser inkorrekten Äusserung veranlasst, sich zu entschuldigen.
Nun wurde einer der bekanntesten britischen Karikaturisten Opfer der Keule: Steve Bell wurde vom Guardian entlassen, nachdem er Benjamin Netanjahu gezeichnet hatte, der an seinem eigenen Bauch operiert – dabei stellte er einen Schnitt im Umriss des Gazastreifens dar. Wie die BBC berichtet, wurde die Zeichnung vom Guardian nicht veröffentlicht, doch Bell hatte sie auf X (ehemals Twitter) gepostet. Deshalb wurde ihm Antisemitismus vorgeworfen.
Quelle: The Spectator/Twitter
Gemäss Fraser Nelson im Spectator erklärte der 72-jährige Bell daraufhin, es sei fast unmöglich geworden, für den Guardian etwas zu diesem Thema zu zeichnen, ohne dass man ihm vorwerfe, «antisemitische Symbole» zu verwenden. Nelson erachtet das als «Teil eines umfassenderen Trends».
Wie der Journalist erklärt, wollte Bell nicht auf «Shylocks Pfund Fleisch» anspielen, wie ihm vorgeworfen wird, sondern auf Lyndon B. Johnson und Vietnam. Auf Bells Karikatur ist der Schriftzug «After David Levine» zu lesen, eine Anspielung auf den Karikaturisten, dessen Werk ein Synonym für die New York Review of Books war. 1966 posierte L.B.J. für die Kameras und enthüllte eine ein Meter lange Narbe von einer Gallenblasenoperation. Levine persiflierte diese Narbe, indem er sie in der Form Vietnams darstellte. Es war eine seiner berühmtesten Karikaturen.
Nelson erachtet Bells Zeichnung als «eine gute Analogie»: Netanjahu werde von dem, was als nächstes in Gaza passiere, genauso geprägt sein wie LBJ von Vietnam. Eine etwas schräge Anspielung, doch viele Leser des Guardian, zumindest der Printausgabe, hätten sie verstanden. «Idioten» wiederum hätten sie als antisemitisch bezeichnen können. Nelson fragt: «Was ist also zu tun? Veröffentlichen und sie als Idioten abtun? Oder die Karikatur aufspiessen?». Und weiter:
«Hier steht die britische Tradition der Satire auf dem Spiel. Karikaturisten übertreiben und schockieren: Seit Gillray haben wir das Weltgeschehen durch diese Karikaturen dargestellt und verspottet. Doch der neue Feind dieses Trends ist Twitter, wo Nichtleser einer Publikation an einer Karikatur Anstoss nehmen, die ihnen nicht gefällt. Empörung folgt auf Empörung, ein Twitterstorm wird ausgelöst, Der Stürmer wird erwähnt, und Karikaturisten wie Martin Rowson werden angefeindet oder entlassen.»
Der Autor betont, dass Linke auf Twitter die Entlassung bejubeln. Er kommentiert:
«Siehe da, die Humorlosigkeit der Linken verschlingt jetzt ihre Karikaturisten! Aber hier gibt es nichts zu geniessen. Eine lange und bemerkenswerte Karriere ist auf diese Weise zu Ende gegangen, weil eine renommierte Zeitung nicht in der Lage war, seinen Stil im neuen Zeitalter der digitalen Zensur zu verteidigen. Es ist ein deprimierendes Zeichen unserer Zeit. Ich habe den Verdacht, dass der Guardian seit dem Debakel um Martin Rowson, dem ebenfalls antisemitische Gags vorgeworfen wurden, paranoid geworden ist. Es ist schwer, solche Risiken zu vermeiden: Kunst ist immer offen für Interpretationen. Jede Karikatur, die sich mit Israel befasst, könnte von der Empörungstruppe als antisemitisch interpretiert werden und nicht einfach als Satire auf Netanjahu.»
Nelson zeigt allerdings auch Verständnis für den Guardian: Es seien schwierige Gewässer, in denen man sich bewege. Karikaturisten seien Künstler. Es sollte die Aufgabe der Redaktion sein, zu entscheiden, ob etwas die Grenze überschreite. Er ergänzte:
«Witze, rhetorische Schnörkel oder künstlerische Pointen zu unterbinden, würde einer Publikation das Leben rauben. Aber alles unüberlegt zu veröffentlichen, könnte dem Künstler grossen Ärger einbringen, ganz zu schweigen von dem Titel.»
Der Journalist erinnert an Mark Knight, einen australischen Karikaturisten, der untertauchen musste, nachdem Twitter seine Serena-Williams-Karikatur als rassistisch eingestuft hatte. Nelson erläuterte:
«Ich vermute, dass der Guardian, der inzwischen überwiegend digital publiziert, mehr Zugeständnisse an den digitalen Empörungsmob machen musste. Daher der Abgang der grossen Namen des Guardian, die gegen den Strom schwimmen: Suzanne Moore, Hadley Freeman und jetzt Steve Bell.»
Nelson erkennt weitere Faktoren für die Entlassung Bells, darunter: Einen «für heutige Verhältnisse ungewöhnlichen Modus Operandi» Bells; seine feste Anstellung und somit höhere Kosten als bei den meisten anderen Karikaturisten, die freiberuflich tätig sind; sein manchmal grotesker Stil, der anfällig für Fehlinterpretationen sei. Nelson schliesst:
«Vielleicht haben sie beim Israel-Krieg einfach den Panikknopf gedrückt. Vielleicht waren sie verärgert darüber, dass er sich auf Twitter Luft gemacht hat. Aber ihn wegen dieser Karikatur zu verlieren, war ein Fehler und setzt die Messlatte für inakzeptable Satire gefährlich niedrig. Das wird Trolle ermutigen, die sich nun auf andere Karikaturisten stürzen werden. Bells erzwungener Rücktritt kann also als Teil eines grösseren Trends gesehen werden, nämlich dass die Parameter für Humor und Satire verschärft werden. Wenn sie so eng werden, dass beides nicht mehr möglich ist, dann werden unsere nationale Debatte und unsere Kultur um so ärmer sein.»
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