US-Geheimdienste haben laut dem US-Journalisten Seymour Hersh die russischen Sicherheitsbehörden vor dem Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau am 22. März vor einer drohenden islamistischen Terrorgefahr gewarnt. Das schreibt Hersh in einem am Mittwoch veröffentlichten Beitrag. Die übermittelnden Informationen seien aber nicht so konkret gewesen, wie es die US-Zeitung Washington Post am 2. April in einem Bericht behauptet hat.
Das Blatt hatte in seiner Onlineausgabe am Dienstag gemeldet, die US-Regierung habe mehr als zwei Wochen vor dem Anschlag russische Beamte informiert. Dabei sei die Crocus-Stadthalle, ein beliebter Veranstaltungsort für Konzerte, als potenzielles Ziel genannt worden.
Bei dem Anschlag am 22. März auf die Halle in Krasnogorsk bei Moskau sind nach offiziellen Angaben mehr als 140 Menschen getötet und zahlreiche verletzt worden. Mehrere der mutmasslichen Täter wurden kurz danach gefasst und inzwischen vor Gericht gestellt, wo sie sich russischen Angaben nach zu der Tat bekannten.
Bis heute sind die genauen Hintergründe unbekannt. Laut der russischen Regierung gibt es eine Spur in die Ukraine, von wo aus vermeintliche Islamisten zu dem Anschlag angestiftet wurden. Geheimdienst- und Terrorexperten wie der Schweizer Ralph Bosshard machten darauf aufmerksam, dass das Vorgehen der Attentäter nicht den bislang beobachteten Modus Operandi islamistischer Terroristen entsprach.
Doch westliche Medien haben sich wie die jeweiligen Regierungen darauf festgelegt, dass es sich um einen islamistischen Anschlag gehandelt haben müsse. Auf die Gefahr eines solchen Anschlages in Russland hatte eine öffentliche Warnung der US-Botschaft in Moskau am 7. März hingewiesen, ohne Details zu nennen.
Die ungenauen Angaben der US-Behörden haben laut Hersh Journalisten und Blogger veranlasst zu schreiben, dass die russischen Behörden gar nicht darauf reagieren konnten. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am 19. März bei einer Rede beim Inlandsgeheimdienst FSB westliche Warnungen als «gezielte Provokation» bezeichnet.
Unkonkrete Warnmeldungen
Die nun von der Washington Post erwähnten genaueren US-Informationen über einen drohenden Anschlag an die russischen Behörden, über die zuvor auch schon die Zeitung New York Times berichtet hatte, seien aber immer noch relativ unkonkret gewesen. Das habe ihm ein US-Geheimdienstmitarbeiter mitgeteilt, so Hersh.
Der «informierte Beamte» habe den Bericht der Post als «absichtlich gesponnen» bezeichnet, «um das Versagen [des russischen Präsidenten Wladimir Putin] noch viel schlimmer zu machen». Er habe aber bestätigt, dass es vor dem Anschlag auf die Crocus-Halle «mehrere Warnungen von Geheimdienst zu Geheimdienst» gegeben habe, von denen eine als «dringlich» bezeichnet worden sei.
Die Kennzeichnung «dringend» bedeute, dass die übermittelten Daten über einen bevorstehenden islamischen Terroranschlag «glaubwürdig und kurzfristig waren», zitiert Hersh seinen Informanten. Das Ziel sei in der «dringlichen» Warnung aber nur als «öffentliche Versammlung» bezeichnet und das Konzert am 22. März in der Crocus-Halle nicht erwähnt worden – «obwohl es ein wahrscheinlicher Anschlag war».
Die Washington Post beruft sich bei ihrem Bericht auf Informationen von anonym bleibenden Geheimdienstmitarbeitern. Das seien aber laut Hersh Personen gewesen, die die entsprechenden internen Prozesse nicht kennen. Der US-Journalist zitiert seinen Informanten:
«Der streng geheime Bericht über den Anschlag in Moskau wurde vom Zentrum für Terrorismusbekämpfung im CIA-Hauptquartier erstellt und an die Terrorismusabteilung des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes im alten KGB-Gebäude in Moskau weitergeleitet. Der FBI-Beamte in der Botschaft hat die einzelnen Briefings persönlich vorgetragen. Dies ist eine etablierte Beziehung.»
Hersh erinnert in dem Zusammenhang an den Anschlag auf den Boston-Marathon im Frühjahr 2013 durch zwei Tschetschenen. Bei «dem vielleicht kritischsten Versagen des US-amerikanischen Inlandsgeheimdienstes seit den Anschlägen vom 11. September [2001]» seien vorherige konkrete Warnungen aus Russland weitgehend ignoriert worden.
Pflicht zur Warnung
Ebenso weist der investigative Journalist daraufhin, dass US-Geheimdienste die israelischen Sicherheitsbehörden informiert hatten, dass sie Planungen der Organisationen Hamas für einen Angriff abgehört hätten. Der war dann am 7. Oktober 2023 erfolgt und hat Israel angeblich überrascht.
Auch dabei seien die Warnungen vorher ignoriert worden, so Hersh. In einem Beitrag wenige Tage zuvor hatte er auf die «Pflicht zur Warnung» aufmerksam gemacht. Auf diese hätten sich die Geheimdienste verschiedener Länder nach dem 11. September 2001 geeinigt.
Diese Pflicht gegenüber bedrohten oder gefährdeten Ländern erstreckt sich laut Hersh im Fall der USA auch auf gegnerische Staaten wie Russland oder den Iran:
«Die US-amerikanischen Nachrichtendienste warnten achtzehn Tage vor dem Anschlag auf den Moskauer Konzertsaal, bei dem mindestens 137 Menschen getötet und mehr als hundert verletzt wurden, vor einem möglichen Angriff religiöser Extremisten aus Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan. Eine solche Warnung stammt ausnahmslos aus abgefangenen Informationen der National Security Agency und aus Agentenberichten der Central Intelligence Agency.»
Ein pensionierter Geheimdienstmitarbeiter habe ihm erklärt, dass er und andere in der Geheimdienstgemeinschaft «wirklich glauben, dass es eine Pflicht gibt», andere Nationen – sogar Russland – vor drohenden Terroranschlägen zu warnen. Wenn es dazu unmittelbare Erkenntnisse gebe und die USA die Gefahr nicht mit eigenen Kräften ausschalten könnten, werde das gefährdete ausländische Ziel alarmiert.
Hersh beteiligt sich in dem Text vom 27. März an den Vorwürfen, dass Putin die US-Warnungen ignoriert habe und deshalb für die Folgen verantwortlich sei. Immerhin hatte selbst die Washington Post berichtet, dass allen Anzeichen nach die russischen Behörden Anfang März auf die Informationen reagierten und Sicherheitsvorkehrungen an öffentlichen Orten verstärkten.
«Es ist möglich, dass die russischen Sicherheitsdienste, die in den Tagen kurz nach dem 7. März keinen Anschlag erlebten, davon ausgingen, dass die US-Informationen falsch waren, und ihre Wachsamkeit vernachlässigten, wie einige US-Beamte vermuteten», so das Blatt. Auch die New York Times berichtete davon, dass die russischen Behörden anfänglich auf die frühen Warnungen reagierten.
Die Zeitung schrieb auch: «Aufgrund der kontroversen Beziehungen zwischen Washington und Moskau gaben die US-Beamten nur das Nötigste an Informationen über das Komplott weiter, da sie befürchteten, die russischen Behörden könnten ihre geheimdienstlichen Quellen oder Methoden erfahren.» Und: «Es ist unklar, ob die US-Geheimdienste den Zeitpunkt des Anschlags falsch eingeschätzt haben oder ob die Extremisten ihren Plan verschoben haben, als sie die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen bemerkten.»
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