In diesen kriegerischen Zeiten ist es wichtiger denn je, die wahren Gründe vergangener Kriege zu verstehen, damit man heute weiteren Eskalationen entgegenwirken kann. Um die Erinnerung an den NATO-Angriffskrieg auf Serbien vor genau einem Vierteljahrhundert wachzuhalten, werden wir in dieser Serie elf Wochen lang einmal wöchentlich dessen Hintergründe beleuchten. Genauso lange wurden die Serben bombardiert. Nachfolgend wird die Serie mit Teil 5 fortgesetzt (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4).
*******
Vertreibung von Serben
Die meisten ethnischen Säuberungen im gesamten ehemaligen Jugoslawien wurden laut dem US-Historiker Michael Parenti nicht von den Serben verübt, sondern sie waren in grossem Stil Opfer. In seinem Buch «To Kill a Nation – The Attack on Yugoslavia» erklärt er, dass mehr als eine Million Serben aus ihren angestammten Häusern in den abtrünnigen Republiken vertrieben worden seien. Einige seien dreifach vertrieben worden: aus Kroatien nach Bosnien, dann in den Kosovo und schliesslich ins verbliebene unbesetzte Serbien.
Im Jahr 2000 habe der Reststaat Jugoslawien pro Kopf mehr Vertriebene beherbergt als fast jedes andere Land, darunter etwa 300’000, die immer in Serbien gelebt hatten und durch die NATO-Bombenangriffe und die damit verbundenen Härten intern vertrieben worden seien.
Ein zerstörtes serbisches Haus in Sunja, Kroatien. Von 1991 bis 1995 war Sunja Teil der Republik Serbische Krajina. Die meisten Serben flohen von dort während der «Operation Storm» im Jahr 1995; Bild: Petar Milošević, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Der US-amerikanische Ökonom und Medienanalyst Edward S. Herman, zusammen mit Noam Chomsky Autor des wegweisenden Buches «Manufacturing Consent», schreibt in «The Dismantling of Yugoslavia»:
«Die Dichotomie von Gut und Böse – die NATO rächt die Unschuldigen und versucht nun, unterdrückte Menschen zu befreien und Staaten auf zwei Kontinenten zu errichten – hat vielleicht einen schweren Schlag erlitten, als Kroatien 1995 die Serben aus der Krajina vertrieb, was zahlenmässig die grösste Säuberung der Kriege war. Und dann noch einmal unter dem Schutz der NATO ab 1999, als Serben und Roma aus dem Kosovo flüchteten – die grösste ethnische Säuberung, die es in diesen Kriegen prozentual gesehen gegeben hat. Verstärkt wurde dies jedoch durch die Ereignisse nach der Räumung der ‹sicheren Zone› von Srebrenica im Juli 1995, einem Symbol des ultimativen Bösen, das in der Arbeit des ICTY [Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien] und im ‹Nie wieder›-Chor immer wieder beschworen wird.»
Der britische Journalist Richard Palmer fragt sich, warum Srebrenica in aller Munde ist, während die Krajina kaum Erwähnung findet. Er erinnert daran, dass der kroatische General Ante Gotovina vom ICTY wegen seiner Taten in der Krajina für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen wurde. In der Presse sei das kaum erwähnt worden. Als Ratko Mladic gefangen genommen wurde, habe man das hingegen in allen Zeitungen gelesen:
«Die Doppelmoral, die hier an den Tag gelegt wird, ist eine monumentale Geschichte – wenn man versteht, wer letztendlich wirklich dahinter steckt.»
Parenti geht auf die Hintergründe der Vertreibung aus der Krajina ein. Der selbsterklärte serbische autonome Bezirk habe seine Absicht bekanntgegeben, in der Bundesrepublik Jugoslawien zu bleiben. Wenn Kroatien sich von Jugoslawien abspalten würde, dann würde sich die Krajina von Kroatien abspalten. Auch die Serben in Bosnien hätten in einem eigenen Referendum mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib in der Bundesrepublik Jugoslawien gestimmt, «nur um vom Westen ignoriert zu werden»:
«Das Selbstbestimmungsrecht galt eindeutig nicht für die Serben. Die separatistischen Bewegungen in Slowenien, Kroatien und Bosnien liessen den Traum der serbischen Nationalisten von einem Nationalstaat wieder aufleben, der von denjenigen vertreten wurde, die der Meinung waren, dass das Selbstbestimmungsrecht den ethnischen Nationalitäten und nicht den Republiken oder Föderationen zusteht. Viele Serben identifizierten sich jedoch weiterhin als Jugoslawen.»
Anfang August 1995 starteten die kroatischen Streitkräfte laut dem Historiker «die blutigste Offensive des Krieges». Sie hätten die serbischen Verteidigungsanlagen in der Krajina durchbrochen, Tausende von serbischen Zivilisten getötet und 225’000 Menschen in die Flucht geschlagen. An dieser Operation seien die Westmächte aktiv beteiligt gewesen. Im Monat zuvor habe US-Aussenminister Warren Christopher die kroatischen Militäraktionen gegen die Serben in der Krajina und in Bosnien gutgeheissen. Zwei Tage später habe auch der US-Botschafter in Kroatien, Peter Galbraith, den Invasionsplan gebilligt:
«US-NATO-Flugzeuge zerstörten die serbische Radar- und Flugabwehr und störten die serbische Militärkommunikation, sodass die vom Westen ausgebildete und finanzierte kroatische Luftwaffe die serbischen Verteidigungsanlagen bombardieren und Flüchtlingskolonnen beschiessen konnte. Die gefangenen serbischen Zivilisten, die nach Bosnien strömten, wurden von kroatischer und muslimischer Artillerie massakriert»
Sara Flounders zitiert in «Bosnia tragedy: The unknown role of the Pentagon» den britischen The Independent vom 6. August 1995:
«Die Wiederbewaffnung und Ausbildung der kroatischen Streitkräfte zur Vorbereitung der jetzigen Offensive sind Teil einer klassischen CIA-Operation: wahrscheinlich die ehrgeizigste Operation dieser Art seit dem Ende des Vietnamkriegs.»
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2023 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare