Jan Kavan ist ehemaliger tschechischer Aussenminister und leitete als Präsident die 57. Generalversammlung der Vereinten Nationen. Er ist Mitglied des Petitionsausschusses der tschechischen Initiative Frieden und Gerechtigkeit. Im nachfolgenden Interview äussert er sich zu seinen Beweggründen.
Kavan wurde 1946 als Sohn einer englischen Lehrerin und eines tschechoslowakischen Diplomaten in London geboren. Sein Vater, nach der Machtübernahme durch die Kommunisten in einem Schauprozess zu 25 Jahren Haft verurteilt, starb nach der Entlassung früh an den Haftfolgen. Jan Kavan war dann einer der Führer der Studentenbewegung während des Prager Frühlings und emigrierte nach der Niederschlagung durch die Sowjets 1969 nach London. Dort gründete er die Palach Press Agency, das Hauptverbreitungsmedium der tschechischen Regimekritiker in Westeuropa.
In ihrem Buch «Love and Freedom» erzählt Kavans Mutter Rosemary die Geschichte einer Engländerin, die durch ihre Heirat mit einem Tschechen das Leben im Prag der Nachkriegszeit kennenlernt und den Alptraum der stalinistischen Säuberungen bis hin zum Prager Frühling und seinen Folgen miterlebt.
Kavan kehrte während der Samtenen Revolution im November 1989 nach Prag zurück und wurde 1990 ins tschechoslowakische Parlament gewählt. 1998 bis 2002 war er tschechischer Aussenminister und bis 2006 Abgeordneter. Von 2002 bis 2003 war er Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO). Am 8. Januar 2023 startete er gemeinsam mit dem Mediziner Václav Hořejší und dem Journalisten und Gründer der tschechischen Grünen Matěj Stropnický die tschechische Initiative «Frieden und Gerechtigkeit».
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Transition News: Herr Kavan, Sie waren von 1998 bis 2002 tschechischer Aussenminister in einer sozialdemokratischen Regierung. Das war die Zeit, in der Ihr Land der NATO beitreten sollte. Jetzt stehen Sie hinter der Initiative «Mír a spravedlnost» (Frieden und Gerechtigkeit) in der Tschechischen Republik. Können Sie erklären, was Ihr Ziel ist und warum Sie diese Initiative ergriffen haben?
Kavan: Als ich Aussenminister wurde, habe ich die Arbeiten am Beitrittsprozess zur NATO von meinem Vorgänger übernommen. Ich habe den Beitritt meines Landes zur NATO und zur Europäischen Union (EU) unterstützt. Ich war Aussenminister, als dieser Prozess abgeschlossen wurde. In meiner Rede in der Truman-Bibliothek in Kansas, wo der NATO-Beitritt der tschechischen Republik vollzogen wurde, habe ich die Schauprozesse erwähnt und gesagt, dass ich mein Bestes tun werde, damit sich so etwas nicht wiederhole.
Für mich bedeutete die NATO Stabilität und das Vermeiden von Krieg. Dies würde letztlich dafür sorgen, dass sich Dinge wie die Schauprozesse der fünfziger Jahre nicht wiederholen würden. Ich habe den Begriff «Verteidigungsorganisation» in Bezug auf die NATO für bare Münze genommen. Und ich hoffe immer noch, dass sie diesem Anspruch gerecht wird. Leider ist das in den letzten Jahrzehnten nicht der Fall gewesen.
Können Sie das präzisieren?
Ich habe die Bombardierung des ehemaligen Jugoslawiens kritisiert. Und als Präsident der UN-Generalversammlung habe ich mich gegen die Invasion des Irak ausgesprochen, die schliesslich nicht von der NATO, sondern nur von der Koalition der Willigen durchgeführt wurde, die natürlich von den USA, dem wichtigsten NATO-Land, angeführt wurde.
Die NATO hat sich auch schrittweise gegen die russische Grenze ausgedehnt, was nicht im Interesse der Verteidigung ist. Die NATO hat die Ängste Russlands um seine eigene Sicherheit unterschätzt. Und sie verstiess gegen ein Versprechen, das US-Präsident George H.W. Bush, US-Aussenminister James Baker und der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl dem letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gegeben hatten: dass sich die NATO «keinen Zentimeter nach Osten» bewegen würde.
Ich habe die 300 Seiten umfassenden Protokolle der Gespräche gelesen, die Gorbatschow mit Bush, Kohl und anderen hochrangigen Politikern dieser Zeit geführt hat. Ich habe keinen Grund, nicht zu glauben, dass James Baker Gorbatschow versprochen hat, dass «die NATO sich nicht einen Zentimeter nach Osten» bewegen wird. Ich habe Putins Einmarsch in die Ukraine verurteilt, aber gleichzeitig müssen wir versuchen, seine Entscheidung zu verstehen. Verstehen ist nicht gleichbedeutend mit akzeptieren und zustimmen.
Meiner Meinung nach war Gorbatschow viel zu vertrauensselig und hat die westlichen Führer nicht um eine schriftliche Erklärung gebeten. Es gibt kein unterschriebenes Papier, sondern nur die Niederschrift der Gespräche, in der die Versprechungen absolut eindeutig sind. Das ist meine Kritik an Gorbatschow. Aber es ändert nichts an der historischen Tatsache, dass diese Versprechen gemacht wurden.
Was sollte die Tschechische Republik stattdessen tun?
Meine Kritik ist, dass mein Land eine Politik unterstützt, die kontraproduktiv ist. Sie wird nicht zum Frieden führen. Es ist naiv zu glauben, dass die Ukraine mit Hilfe des Westens Russland besiegen kann.
Ich stimme mit dem US-Generalstabschef Mark Milley überein, der sagte, dass es keine militärische Lösung gibt. Unter dieser Prämisse scheint mir die derzeitige Politik, immer mehr Waffen zu schicken, kontraproduktiv zu sein. Sie wird dazu führen, dass noch mehr Menschen getötet werden und die Ukraine noch mehr verwüstet wird. Die Entsendung von Waffen wird die Situation nur noch schlimmer machen.
Eine diplomatische Lösung ist die einzige Lösung. Heute versucht jede Seite, ihre Position auf dem Schlachtfeld zu verbessern, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Aber das Schlachtfeld hat sich seit mehreren Monaten nicht wesentlich verändert. Es herrscht eine Art Patt. Dies scheint mir ein guter Zeitpunkt zu sein, um sich auf einen Waffenstillstand zu einigen.
Meine Kritik an der tschechischen Regierung (und anderen Regierungen) besteht darin, dass sie an diesen Unsinn glaubt, die Ukraine könne eine der grössten Armeen der Welt und eine Atommacht militärisch besiegen. Mehrere Diktatoren haben das in der Vergangenheit versucht – und sind gescheitert.
Es gibt die Kritik, dass ein Waffenstillstand Russland Zeit verschaffen und letztlich Putin nutzen würde. Das ist schlichtweg unwahr. Der Waffenstillstand wird von beiden Seiten eingehalten werden müssen. Und seine Umsetzung muss von externen Mächten überwacht werden, von der UNO bis zu China, Brasilien, Indien, Indonesien, der Türkei und anderen. Und diese Mächte müssen auch garantieren, dass keine weiteren Waffen in die Ukraine geliefert werden. Die Aushandlung eines späteren Friedensabkommens wird schmerzhaft sein und viel Zeit in Anspruch nehmen, aber es ist besser, als bis zum letzten Ukrainer in der naiven Hoffnung zu kämpfen, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen.
Besteht die Möglichkeit, dass dies geschieht?
Ein erster Waffenstillstand wurde bereits im März 2022 vereinbart. Doch bevor er in Kraft treten konnte, reiste der damalige britische Premierminister Boris Johnson nach Kiew und setzte Präsident Selenski (mit Unterstützung des US-Präsidenten) unter Druck, seine Zusage zurückzunehmen. Was wir verstehen müssen, ist, dass Selenski völlig vom Westen, insbesondere von den USA, abhängig ist. Er muss tun, was man ihm sagt.
Der Waffenstillstand, den wir im Rahmen der tschechischen Initiative «Frieden und Gerechtigkeit» fordern, muss von der UNO und den von mir genannten führenden Vermittlerstaaten garantiert werden. Dazu müssten natürlich auch Russland und die USA gehören. Einige europäische Länder wie Frankreich werden sich dann anschliessen, da bin ich mir sicher.
Wie kam es zu dieser Bewegung?
Sie entstand spontan, eine Journalistin hatte sich an uns gewandt. Eigentlich sind wir drei Gründer. Matěj Stropnický, der ehemalige Vorsitzende der Grünen Partei, Prof. Horejsi, ein führender Akademiker und ich. Wir bildeten das Organisationskomitee und entwarfen den Text der Erklärung. In diesem Text verurteilten wir ausdrücklich die russische Invasion in der Ukraine, machten aber auch deutlich, dass es keine Lösung auf dem Schlachtfeld gibt. Wir forderten daher einen Waffenstillstand und Friedensgespräche. Anschliessend riefen wir die Öffentlichkeit auf, die Erklärung zu unterzeichnen.
Wir haben auch eine öffentliche Versammlung organisiert. Ein führender ukrainischer Friedensaktivist, Juri Scheljaschenko, nahm online von Kiew aus teil. Er wird jetzt strafrechtlich verfolgt. Bis heute haben wir etwa 20’000 Unterschriften gesammelt. Wir bereiten jetzt einen weiteren Friedensappell vor. Diesmal werden wir auch die schreckliche Situation in Gaza erwähnen. Natürlich verurteilen wir die Gräueltaten der Hamas in Israel, aber es ist nicht möglich, darauf mit einem Massenmord an Tausenden von unschuldigen Zivilisten, darunter fast 1000 Kinder, zu reagieren.
Wir würden uns eine internationale Friedensbewegung wünschen, ähnlich wie in den 70er und 80er Jahren, in denen ich ebenfalls ein aktives Mitglied war. Diese Bewegung hatte damals dazu beigetragen, dass die offensiven US-Cruise- und Pershing-Raketen nicht installiert wurden, aber auch die sowjetischen SS20-Raketen bekämpft. Aber bis jetzt sind die aktuellen Friedensaktivitäten noch nicht gut koordiniert und miteinander verbunden. Ich hoffe, dass sich dies bald ändern wird.
Wir haben gehört, dass es in der Tschechischen Republik eine gewisse politische Unruhe und Demonstrationen gibt. Stehen diese in Zusammenhang mit Ihrer Bewegung?
Es gibt Demonstrationen mit bis zu 100’000 Menschen, die sowohl gegen die Armut als auch gegen den Krieg demonstrieren. Sie verurteilen auch die thatcher-artige Politik der starken Kürzungen von Sozialleistungen und Renten und natürlich auch die hohe Inflationsrate, die in der Tschechischen Republik eine der höchsten in Europa ist. Die Demonstrationen sind also zum Teil durch die Politik der Regierung motiviert, zum Teil durch die Ablehnung des Krieges.
Sie sind Mitglied des European Leadership Network (ELN), einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in London, der hochrangige Politiker und Diplomaten angehören. In welcher Weise ist dieses Netzwerk an Ihrer Initiative beteiligt?
Es ist nicht direkt beteiligt. Seine Aufgabe ist der Kampf gegen den Einsatz von Atomwaffen. Es unterstützt einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Das ist natürlich eine aktuelle Gefahr. In diesem Sinne sind die Ziele ähnlich, aber nicht identisch. Wir fordern, dass unsere Regierung den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen ratifiziert, aber die Politiker zögern, dies zu tun, obwohl wir in der Tschechischen Republik keine Atomwaffen besitzen. Die ELN kritisiert auch die Entscheidung von Donald Trump, den Vertrag mit dem Iran aufzukündigen, der die Gefahr minimiert hätte, dass der Iran eigene Atomwaffen bauen könnte.
Unsere Initiative befürchtet auch, dass, wenn die militärische Situation Herrn Putin in die Enge treibt, wenn er zum Beispiel Gefahr läuft, die Krim zu verlieren, die Gefahr besteht, dass einige seiner verrückten Politiker und Militärexperten auf den Einsatz taktischer Atomwaffen zurückgreifen, was uns auf eine sehr abschüssige Bahn bringen würde. Aber es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Netz und unserer Initiative.
In Deutschland gibt es eine ähnliche Initiative von der linken Politikerin Sahra Wagenknecht und der Feministin Alice Schwarzer. Gibt es eine Zusammenarbeit mit ihnen?
Wir sind uns dessen sehr wohl bewusst und unterstützen es sehr. Wir haben um eine Zusammenarbeit gebeten, aber leider keine Antwort erhalten. Wir hoffen immer noch auf eine Zusammenarbeit, weil ihre Aussage unserer eigenen Wahrnehmung sehr nahe kommt.
Sie haben unter der sowjetischen Herrschaft über die tschechoslowakische Politik und der Invasion im Jahr 1968 sehr gelitten. Ihr Vater kam ins Gefängnis, Sie mussten ins Exil gehen und Ihre Mutter haben Sie im letzten Moment aus Prag herausgeschmuggelt, um ihrer Verhaftung wegen Aktivitäten gegen die Besatzung zu entgehen. Wurde Ihnen in letzter Zeit vorgeworfen, Sie hätten Ihre Überzeugungen geändert? Dass Sie ein so genannter «Putinversteher» seien?
Mein Vater wurde 1951 verhaftet und zu einer 25-jährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde freigelassen, als der damalige sowejtische Parteichef Chrutschow versuchte, sich mit Hilfe des Abgeordneten der britischen Labour-Partei, Konni Ziliacus, der in der Anklageschrift gegen meinen Vater vorkam, mit dem jugoslawischen Parteichef Tito zu versöhnen. Im Gefängnis wurde er so schlecht behandelt, dass er im Alter von 46 Jahren starb.
Ich war vor und während des Prager Frühlings von 1968 aktiv und war 1969 gezwungen, nach England auszuwandern.
Heute werde ich in der Tat in der Presse beschuldigt, Putins Marionette zu sein. Was diese Journalisten nicht verstehen, ist, dass die Forderung nach Frieden nicht bedeutet, dass man das, was Putin tut, unterstützt. Als ehemaliger Präsident der UN-Generalversammlung verstehe und verteidige ich das Völkerrecht.
Ich habe meine politischen Überzeugungen seit meiner Jugend nicht geändert. Ich habe immer linke Politiker wie Olof Palme, Salvador Allende oder Jeremy Corbyn unterstützt.
Ich verurteile Putin, aber es ist notwendig zu verstehen, warum er tut, was er tut, um eine friedliche Lösung zu finden.
Es mag den Anschein haben, dass ich meine Ansichten geändert habe. Das habe ich nicht.
Ich bin ein linksradikaler sozialdemokratischer Politiker und Aktivist, seit ich ein Teenager war und seit ich mich näher mit Politik beschäftigt habe. Ich bin ein leidenschaftlicher Gegner von politischen Prozessen, sozialer Ungerechtigkeit, Besetzungen und Diskriminierung. Diese sind eng miteinander verbunden.
Das werde ich so lange tun, bis die Welt frei ist, was wohl nicht mehr zu meinen Lebzeiten geschehen wird.
Die gleichen Ansichten vertrat ich als Student in der Tschechoslowakei und im Vereinigten Königreich sowie als Aussenminister in Prag. Zusammen mit dem damaligen britischen Aussenminister Robin Cook warb ich für eine «ethische Aussenpolitik». Ich wollte, dass meine Aussenpolitik nicht von einer ausländischen Macht abhängig ist. Meine Werte sind immer noch dieselben.
Das gleiche gilt für die Zeit als ich Präsident der UN-Generalversammlung war. George W. Bush betrachtete mich als Rebell, weil ich seine Forderung nach einem UN-Mandat für die Invasion des Irak ablehnte. Ich weise daher Vorwürfe zurück, ich würde Putin unterstützen.
Was würden Sie der Schweiz vorschlagen?
Ich hoffe, dass die Schweiz neutral bleibt. Es gibt einen gewissen Widerspruch zwischen Neutralität und der Lieferung von Waffen. Vielleicht sollte sich die Schweiz den Ländern anschliessen, die versuchen, einen Waffenstillstand zu erreichen. Ich hoffe, dass Ihr Land mit der Zeit die Länder unterstützen wird, die einen Waffenstillstand und Frieden fordern.
Ich erinnere mich aus der Lektüre ihres Buches, wie Ihre Mutter Sie in den 60er Jahren bei Ihren Untergrundbewegungen unterstützt hat. Welche Rolle würde sie jetzt spielen, wenn sie noch am Leben wäre?
Meine Mutter war meine allerbeste Freundin. Sie teilte ähnliche politische und ethische Ansichten. Sie würde mich heute genauso unterstützen wie damals. Es ist so schade, dass sie so jung, im Alter von 58 Jahren, gestorben ist und die Samtene Revolution und meine Wahl zum Präsidenten der UN-Generalversammlung und zum tschechischen Aussenminister nicht mehr erleben durfte! Ich kann mich an stundenlange Gespräche mit ihr erinnern. Ja, zweifellos teilten wir dieselben Werte.
In den 60er Jahren waren Sie ein Rebell, dann wurden Sie zum Mainstream, tschechischer Abgeordneter und Aussenminister und so weiter. Was sind Sie jetzt, Herr Kavan?
Ich sehe da keine Widersprüche. Ich bin immer noch politisch aktiv und auch immer noch rebellisch. Ich bin nicht nur mit unserer Regierung nicht einverstanden, sondern derzeit auch mit der Führung meiner eigenen sozialdemokratischen Partei wegen des Krieges in der Ukraine, (obwohl ich eine bedeutende Unterstützung durch ältere Parteimitglieder geniesse). Ich werde ein politischer Rebell bleiben, bis die Welt frei von Kriegen und Ungerechtigkeit ist. Aber ich bin realistisch und verstehe, dass dies zu meinen Lebzeiten nicht zu erreichen ist. Ich werde trotzdem weiter für meine Werte kämpfen. Ich bin mir bewusst, dass es viele Menschen auf der Welt gibt, die dieselben Werte teilen. Ich bin jetzt ein Rebell, aber kein destruktiver Rebell, deshalb unterstütze ich internationale Friedensbewegungen.