Der investigative US-Journalist Seymour Hersh berichtet in einem neuen Beitrag, dass die israelische Führung die bewaffneten Kräfte der Hamas in den Tunneln und Trümmern von Gaza-Stadt erbarmungslos jagen lässt. Der Befehl an die Soldaten laute, bei Sichtkontakt zu schiessen und zu töten. Hersh schreibt von einem «mörderischen Endspiel» für die Mitglieder der Qassam-Brigaden, dem militärischen Teil der Hamas.
Dagegen werde mit der politischen Führung der palästinensischen islamischen Organisation im Geheimen über die Freilassung der derzeit wohl 248 Geiseln verhandelt. Die befinden sich seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober den Angaben nach in deren Gewalt. Die politische Führung der Organisation wolle so ihr eigenes Leben retten, so Hersh.
Der Journalist beruft sich auf israelische und US-amerikanische Regierungsbeamte. Denen zufolge habe der derzeitige politische Führer der Hamas, Yahya Sinwar, sich auf Verhandlungen eingelassen. Der Angriff am 7. Oktober sei ein Alleingang des militärischen Flügels der Hamas gewesen, heisst es.
Sinwar habe am 28. Oktober öffentlich bekanntgegeben, die Hamas sei zu einem «sofortigen» Gefangenenaustausch mit Israel bereit. Im Gegenzug sollen alle palästinensischen Gefangenen frei gelassen werden, die sich derzeit in israelischem Gewahrsam befinden. Laut Hersh will die politische Hamas-Spitze «ihren guten Willen demonstrieren und ihr eigenes Leben retten».
Die Geiseln vom 7. Oktober sollen demnach aus dem Tunnelsystem in Gaza-Stadt in einen Keller des belagerten Al-Shifa-Krankenhauses gebracht werden. Dort seien sie in relativer Sicherheit und würden die technischen Versorgungssysteme noch funktionieren. Wie die politische Hamas-Führung das gegenüber den anscheinend eigenmächtig handelnden Qassam-Brigaden durchsetzen will, wird nicht weiter erklärt.
Hersh gibt israelische Aussagen wieder, nach denen den politischen Hamas-Führern übermittelt worden sei, «dass ein Überleben möglich ist, wenn sie die israelischen Geiseln freilassen und sich bereit erklären, sofort mit der Durchführung von Kriegsverbrechertribunalen zu beginnen». Die Israelis würden die Todesstrafe für diejenigen Hamas-Führer fordern, die die Kriegsverbrechen ihrer Kämpfer unterstützt und dann nichts dagegen unternommen haben.
Auch ein US-Beamter soll bestätigt haben, dass die politische Führung der palästinensischen Organisation nicht in die Übergriffe verwickelt war. Der Hamas-Politiker Basem Naim hatte am 31. Oktober in einem Interview mit dem italienischen Sender Rai3 eine internationale Untersuchung der Vorgänge am 7. Oktober gefordert. Naim sagte dem Sender:
«Ich bin nicht einverstanden mit der Art und Weise, wie das, was am 7. Oktober passiert ist. Auch wir wissen nicht genau, was passiert ist. Wir wollen eine internationale Kommission, die Klarheit schafft.»
Laut Hersh hat der erwähnte US-Regierungsbeamte erklärt, dass der politischen Hamas-Führung «Gnade» zugesagt worden sei, wenn die Geiseln ausgeliefert werden. Bei den Gesprächen zwischen beiden Seiten sollen die mutmasslichen Gräueltaten palästinensischer Kämpfer auf israelischem Territorium Thema gewesen sein. Die israelische Regierung würde derzeit entsprechende Smartphone- und Gopro-Kopfkamera-Aufnahmen veröffentlichen, die Hamas-Kämpfer an Familien und Freunde in den Gaza-Streifen gesendet hätten. Das geschieht, während die internationale Kritik am rücksichtlosen Vorgehen der israelischen Armee im Gaza-Streifen zunimmt, worauf Hersh hinweist.
«Diese unwidersprochenen Angriffe hatten nach der letzten Zählung mehr als zehntausend Tote zur Folge und führten weltweit zu Wut und Demonstrationen gegen die israelische Entscheidung, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens ins Visier zu nehmen – ein Angriff, der von vielen als Kriegsverbrechen angesehen wird. Hunderttausende demonstrierten am Samstag in Washington, Berlin, Santiago, Rom und London und forderten einen sofortigen Waffenstillstand.»
Gegenwärtig jage die israelische Armee im Gazastreifen Hamas-Kämpfer, die sich noch im Tunnelsystem versteckt halten sollen. Diese sollen entweder noch in den Tunneln getötet oder erschossen werden, wenn sie an die Oberfläche kommen.
Die israelische Regierung hat laut Hersh selbst die Bitte nach einer «Bombenpause» von US-Aussenminister Antony Blinken bei dessen jüngsten Besuch in Tel Aviv abgelehnt. Ein Waffenstillstand werde von der israelischen Führung als Einstellung der Bombardierungen gewertet und deshalb abgelehnt.
Gaza-Stadt werde nun von Norden, Osten, Süden und vom Mittelmeer aus belagert und angegriffen, so der US-Journalist. Die Hamas-Kämpfer, die in den Tunneln unter dem Gazastreifen noch am Leben seien, würden bald aus Mangel an frischer Luft ersticken, verhungern und verdursten.
«Die mehr als zweihundert Kilometer langen Tunnel werden unweigerlich zu einer Todesfalle, die das Leben unter der Erde ebenso schwierig macht wie über der Erde.»