Die freie Debatte zu unterdrücken, ist eine der Grundvoraussetzungen des Totalitarismus, der sich oft schleichend entwickelt. An diese Erkenntnis von Hannah Arendt erinnerte der Schriftsteller und Theatermacher Michael Schneider am Donnerstag in Berlin. Er eröffnete den Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) zum Thema «Neue Normalität», der bis Samstag andauert. Die NGfP hat sich der «kritischen Psychologie» verschrieben.
Schneider sprach über die «Neue Normalität als Orwell’sches Szenario». Die grösste Gefahr gehe nicht von der Anziehungskraft nationaler und rassistischer Ideologien aus, habe Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg festgestellt. Sie bestehe vielmehr im Verlust der Wirklichkeit, zitierte er die Philosophin und Publizistin:
«Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.»
Dabei geht es aus seiner Sicht vor allem um das Verleugnen der Wirklichkeit. Das habe sich in den letzten drei Jahren während der «Corona-Krise» bei den westlichen Regierungen, der Mehrheit der Parlamente und Parteien, den Gerichten sowie den tonangebenden Medien gezeigt. Die Wirklichkeit werde von diesen Akteuren «regelrecht bekämpft, indem sie versuchen, die freie öffentliche Debatte darüber zu verhindern, bis hin zu offener Zensur, Diffamierung und Verleugnung der kritischen Stimmen».
Orwell’sches Szeanrio
Das geschieht auch bei den aktuellen Konflikten und Kriegen, wie denen in der Ukraine und im Nahen Osten, so Schneider. Er setzte gegen die offiziellen Erzählungen und Narrative die weggelassenen und verschwiegenen Fakten und Zusammenhänge. Am Beispiel des Ukraine-Krieges sagte er:
«Wer es wagt, solche Fakten heute in die öffentliche Debatte einzubringen, wird sofort als ‹Putin-Versteher› oder ‹Putin-Troll› diffamiert und muss sogar damit rechnen, unter Verweis auf das neue juristische Wortungetüm ‹Delegitimierung des Staates›, strafrechtlich verfolgt zu werden.»
Bereits mit der «Corona-Krise» hätten die von Orwell in seinem Buch «1984» beschriebenen Techniken «Doppeldenk» und «Neusprech» die Oberhand gewonnen. Es sei eine Umkehr der Werte erfolgt, bis zu dem Punkt, an dem jeder Mensch zum nicht überprüften Verdachtsfall wurde und seine Unschuld beweisen musste, keine vermeintliche Gefahr für andere zu sein. Schneider bezeichnete das als «Totalausfall jeglicher Realitätsprüfung».
«Grundlage der Durchsetzung von nie dagewesenen Einschnitten in Bürger und Grundrechte war nicht etwa sorgfältige wissenschaftliche Untersuchung, sondern das vorab gesetzte offizielle Narrativ. Das heutige Äquivalent dieser Anti-Logik ist, dass selbst der Begriff des Friedens nicht mehr unschuldig in den Mund genommen werden kann.»
Wenn heute Politiker davon sprechen, mit Waffen Menschenleben zu retten und Frieden zu schaffen, werden aus Sicht von Schneider Denken und Sprache zerstört. Auch die Demokratie werde zerstört, warnte er, auch wenn sie als «formale und entkernte Institutionenhülle» weiter bestehe.
Dr. Michael Schneider (Foto: Tilo Gräser)
Der politische Theatermacher und Schriftsteller zeichnete nach, wie die Corona-Politik Menschen in Angst und Schrecken versetzte und so voneinander isolierte. Ebenso verwies er auf die zahlreichen Fakten, die die offiziellen Behauptungen zur angeblichen Gefahr durch ein vermeintliches Killervirus widerlegten.
Wissenschaft als Machtmittel
Arendt habe beschrieben, wie aufstrebende totalitäre Regime auf einen wissenschaftlichen Diskurs zurückgriffen. Sie zeigen demnach «eine grosse Vorliebe für Zahlen und Statistiken, die schnell zu reiner Propaganda verkommen, gekennzeichnet durch eine radikale Missachtung der Fakten». Heute gebe es eine «moderne Hörigkeit gegenüber den Wissenschaften, verbunden mit einer weitreichenden Infantilisierung, mit der Folge eines paradox anmutenden Totalitarismus und einer Knechtschaft, in denen die Menschen sich freiwillig entmündigen lassen».
Schneider sieht die Wissenschaft «im freien Fall». Wissenschaftler hätten ebenso wie bis dahin hochangesehene wissenschaftliche Zeitschriften und Institutionen «nicht nur sämtliche Regeln guter wissenschaftlicher Praxis über Bord geworfen, sondern sich in bisher kaum dagewesener Weise der Politik angedient».
Die Frage, vor was die Welt gerettet werden sollte, beantwortete er mit Verweis auf die Erkenntnisse des Philosophen Fabio Vighi. Dieser hatte die Zusammenhänge zwischen dem modernen, vom Finanzsektor bestimmten Kapitalismus und der politisch erzeugten «Corona-Krise» analysiert und beschrieben.
Der Kapitalismus befinde sich heute in einer ausweglosen strukturellen Sackgasse, fasste Schneider zusammen. Das verschwiegene sozio-ökonomische Motiv des Politkrimis «Corona-Krise» und auch des Ukrainekrieges müsse «im Kontext dieses epochalen Umbruchs gesehen und verstanden werden, der vor unseren Augen abläuft». Am Ende seines Vortrages zeigte er sich optimistisch:
«So gefährlich, beängstigend und in vieler Hinsicht dystopisch die Zeitläufte auch sind, vielleicht stehen wir gerade am Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Epoche.»
Verwirrung statt Verstehen
Der klaren und vor allem kapitalismuskritischen Analyse des politischen Schriftstellers folgte ein Versuch, «das permanente Verbrechen als Neue Normalität» zu beschreiben. Dieser Versuch kam von dem Mathematiker Werner Meixner, der zeigen wollte, wie eine «satanische Clique» die Menschheit in den «Faschismus kommunistischer Prägung» führen wolle.
Er benannte immerhin das Grundprinzip des Kapitalismus, das entgrenzte Maximieren des Gewinns, als Gefahr, ebenso die damit verbundene Dominanz des US-Finanzkapitalismus. Meixner verlor sich aber in vermeintlich mathematischen Beweisen für verborgene Machenschaften einer geheimen Elite.
Dr. Werner Meixner (Foto: Tilo Gräser)
So sprach er von vier für «unsere Zukunft vielleicht bedeutsamsten politischen Jahrhundertverbrechen»: Dem Untergang der Titanic 1912, der Sprengung der Gasleitung Nord Stream 2, der «Corona-Krise» sowie dem Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Meixner zeigte einen verengten Blick auf die westliche Zivilisation, wie auch einige Besucher im Publikum in der Diskussion anmerkten.
Ebenso kamen bei ihm die tatsächlichen und weit über das 20. Jahrhundert hinaus bedeutsamen Verbrechen des kapitalistischen Systems, die beiden Weltkriege mit ihren zig Millionen Toten, gar nicht vor. Auch nicht der damit verbundene faschistische deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten, die faschistische Judenvernichtung mit sechs Millionen Toten, der europäische und US-amerikanische Imperialismus und Kolonialismus mit seinen Millionen Opfern sowie die US-Atombomben 1945 auf Hiroshima und Nagasaki.
Die Liste der Verbrechen des Systems Kapitalismus, das als einzigen Wert nur die Profitmaximierung um jeden Preis kennt, ist lang. Verständlich, dass dieser systemimmanente Krieg gegen die Menschlichkeit in seinen grenzenlosen Dimensionen, angesichts der von ihm verursachten und eigentlich unfassbaren Schäden und Opfer, erschüttern und verwirren kann. Kritische Psychologie, der sich die NGfP verschrieben hatte, sollte eigentlich beim Verstehen und Erkennen der Ursachen und Zusammenhänge helfen. Der Vortrag von Meixner trug zumindest nicht dazu bei.
Gesteuertes Verhalten
Das jedoch gelang nach dem Mathematiker wieder dem Psychologen und Psychoanalytiker Klaus-Jürgen Bruder, einem der Initiatoren der NGfP. Er sprach über die Mittel und Methoden, mit denen menschliches Verhalten vorhergesagt und kontrolliert wird. Dabei ging er auch auf die Rolle der Wissenschaft der Psychologie als «Magd der Macht» ein, insbesondere auf die Schule des «Behaviorismus».
«Die Psychologie, die sich die Aufgabe der ‹Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens› gestellt hat, ist unter dem Namen Behaviorismus bereits 1913 mit dem Manifest John B. Watsons, ‹Psychologie, wie der Behaviorist sie sieht›, proklamiert worden. ‹Vorhersage und Kontrolle› sind seine leitenden Begriffe, Begriffe des Behaviorismus.»
Bruder ging auch darauf ein, dass diese Versuche, Menschen zu beeinflussen und zu steuern, sich als nicht erfolgreich erwiesen haben. Die Corona-Krise habe aber gezeigt, dass Angst und Strafe weiterhin wichtige und wirksame Mittel für Macht und Herrschaft seien. Die Psychologie helfe als Herrschaftsinstrument, die notwendigen Narrative zu erfinden, mit denen die Mächtigen die Gesellschaft beherrschen und ihre Interessen durchsetzen könnten.
Prof. Klaus-Jürgen Bruder (Foto: Tilo Gräser)
Die Medien sind laut dem Psychoanalytiker «der Ort der Verbreitung und Produktion dieser Narrative». Mit ihrer Hilfe sei in der Corona-Krise die von der Politik gezielt geschürte Angst und Einschüchterung verbreitet worden. Ziel sei auch hier gewesen, das Verhalten der Menschen zu normieren.
Das sei mit formal demokratischen Mitteln geschehen, so Bruder. «Und nur im Grenzfall arbeiten sie mit Gewalt. Aber dieser Grenzfall ist immer im Hintergrund, muss immer mit bedacht werden.» Doch nicht nur das werde in den Hintergrund gedrängt.
Das treffe ebenso für die Wahrheit und die Möglichkeiten des Widerstandes zu, «unsere Möglichkeit, dieser Herrschaft zu widerstehen, zu widersprechen und gegen diese Herrschaft uns selbst zu ermächtigen». Das ist aus seiner Sicht «Sinn dieser Inszenierung und dieser wissenschaftlichen Agitation».
Das Musical «Neue Normalität» nahm das Thema des Kongresses auf und schloss dessen ersten Tag ab.
Weitere Berichte folgen.
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