Ich habe zu Hause weder palästinensisches Olivenöl noch gehe ich in die Synagoge. Ich verstehe auch nicht, warum ein Pfarrer keine Familie haben darf, warum man Frauen die Haartracht (-pracht) und das Gesicht verhüllt. Ebenso wenig, warum man Frauen die Haare abschneidet und sie dafür Perücken tragen lässt, aber keine Handtaschen. Auch leuchtet es mir nicht ein, warum am Basler Rathaus die Landesflagge einer Nation hängen soll, die ein anderes Volk in Käfighaltung darben lässt. Und fast noch weniger, warum man gleich auf die Strasse muss, wenn ein Terrorüberfall Zivilisten das Leben kostet.
Karl Marx hatte Unrecht: Religion ist kein Opium fürs Volk, bestenfalls Speed, denn Opium entspannt und macht friedlich. Unter dieser Präambel und diesen Vorbemerkungen ist der nachfolgende Kommentar zu sehen.
Gideon Levy muss man als Journalisten wohl kaum noch vorstellen. Er gehört zu Israels Top-Schreiberlingen. Er verfasst regelmässig eine Kolumne für die israelische Tageszeitung Haaretz, die seit 1997 auch in einer englischen Ausgabe erscheint. 2021 gewann er den Sokolov-Award, den wichtigsten israelischen Journalistenpreis. Dieser Gideon Levy sagt, dass der Gaza-Streifen das grösste OpenAir-Gefängnis auf der Erde ist.
In der Tat: 2,2 Millionen Menschen sind auf knapp 150 Quadratmeilen eingepfercht, was lediglich das Fünffache des Kantons Basel-Stadt entspricht. Die Stromversorgung untersteht der israelischen Besatzungsmacht, ebenso die Wasserversorgung, die bereits vor den aktuellen Ereignissen kaum funktionierte. Gemäss NDR sind noch knapp acht Prozent als Trinkwasser geeignet. Beide Versorgungen sind zur Zeit ausser Kraft gesetzt.
2,2 Millionen Menschen ohne Strom und Wasser, vielleicht ist die Bezeichnung «Käfig» noch untertrieben. Es ist aber ein Käfig, in den man immer wieder reinballert, aus der Luft und vom Boden aus – Boots on the ground. Ohne dass die Schützen je zur Rechenschaft gezogen wurden oder werden, denn Israel geniesst so was wie geopolitisch-militärische Immunität.
Bereits Kritik an diesem Apartheidstaat 2.0 wird einem als Antisemitismus ausgelegt. Nicht mal ein Ausschluss aus dem Eurovision Song Contest oder der Fussball-Europameisterschaft wird auch nur in Erwägung gezogen. Kurze Zwischenfrage: Was hat eigentlich Israel bei der Fussball-EM verloren? Seit wann gehört Israel zu Europa? Seit den vielen Anschlägen auf britische Staatsbürger im vergangenen Jahrhundert? Wir kommen noch darauf zu sprechen.
Mittlerweile spricht Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident, auch unverblümt davon, den Gazastreifen in Schutt und Asche zu legen – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Nun, im Nahen Osten nichts Neues, denn in den vergangenen zehn Jahren ist das schon viermal geschehen: Abertausende von Palästinensern wurden massakriert.
Was hat es gebracht? Nichts. Der Hass, die Unversöhnlichkeit, die Unmenschlichkeit werden immer grösser. Die Ereignisse in der Al-Axa-Moschee, eine der heiligsten Stätte der Muslime, die immer wieder durch radikale israelische Siedler entweiht wird, so auch zuletzt vor wenigen Tagen, tragen auch nicht zu einem Aufeinanderzugehen bei.
Nur wenig davon entfernt die christliche Grabeskirche mit dem heiligen Grab, Sanctum Sepulcrum, in die Jesus Körper nach der Kreuzigung gelegt wurde, und wo Christen immer wieder auch von israelischen Siedlern vertrieben oder gar geschlagen werden. Nachzulesen im Artikel der FAZ vom 12. April dieses Jahres «Kampf ums heilige Feuer». Da schreibt Christian Meier unter anderem:
«Die Christen in Jerusalem werden aber nicht nur von Siedlerorganisationen bedrängt, die systematisch Kircheneigentum zu übernehmen versuchen. Sie sehen sich, insbesondere in der Altstadt, auch vermehrt Attacken ausgesetzt. Diese kommen laut Angaben von Kirchenführern vor allem von fundamentalistischen Juden – und haben parallel zum wachsenden Einfluss radikaler Siedler in Israel zugenommen. Allein in diesem Jahr gab es mehrere Vorfälle, unter anderem einen Angriff auf zwei Priester auf dem Ölberg, Vandalismus auf dem Friedhof auf dem Zionsberg und ein ‹Tod den Christen›-Graffiti auf einer armenischen Klostermauer».
Kürzlich wurde eine Gruppe von asiatischen Christen, symbolisch das Kreuz Jesu tragend und den Leidensweg Christi, die Via dolorosa, begehend, von israelischen Siedlern verprügelt. Die sonst omnipräsente israelische Staatsmacht in Uniform schritt nicht ein.
Ich bin alles, nur kein Unterstützer oder gar Fan der Hamas. Aber hat Israel die radikalen Hamas nicht selbst ins Leben gerufen wie die USA ISIS im Irak? Zum Beispiel, indem sie jahrelang die säkuläre Bewegung von Jassir Arafat, die PLO, natürlich auch keine Kinder von Traurigkeit, nicht nur geschwächt, sondern auch proaktiv bekämpft hat und so zur Hebamme der Hamas wurde? (War Arafat auch mal ein Terrorist? Wahrscheinlich ja. War Menachem Begin, einst Ministerpräsident von Israel, auch mal ein Terrorist? Wahrscheinlich ja. War Nelson Mandela nicht auch mal ein Terrorist? Wahrscheinlich ja.)
Die Geschichte ist diesbezüglich kristallklar, bezeugt unterdessen auch von Politikern und Militärs von Israel, die damals im Hebammenkreis agierten. Hamas ist eine widerliche, teilweise mit ISIS kollaborierende Terrorbande, die auch die syrische Regierung für einen Regime-Change zerstören wollte, natürlich mit den entsprechenden transatlantischen Puppenspielern im Hintergrund.
Aber das palästinensische Volk ist nicht Hamas. Es ist, mit der israelischen Zivilbevölkerung, das grosse Opfer dieser Blutorgie und wird es erst recht werden, wenn nicht schnell, sehr schnell internationale diplomatische Vernunft einkehrt. Netanjahu aber empfahl allen Palästinensern noch am Sonntag, aus dem Gaza-Streifen zu flüchten, weil Israel den Gaza-Streifen plattmachen werde. Flüchten ja, bloss wohin? Das ist doch der Punkt, wo sollen die Palästinenser denn hinflüchten, Mr. Netanyahu?
Mindestens die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung, die dieser Tage massakriert wird, sind Frauen und Kinder. Ausgesetzt modernsten amerikanischen Kampfjets, F15, F16, F35 für Israel, bestückt mit modernster amerikanischer Munition für Israel. Ja, auch die Palästinenser haben Waffen, vorwiegend Gewehre, erworben aus ukrainischen Schwarzmarktbeständen, an denen auch Selenskyj, selbst jüdischer Religion, mitverdient.
Der Wahnsinn scheint, ähnlich Covid-19 und dem Ukraine-Konflikt, enthemmt und grenzenlos: Nicky Haley, aktuelle Präsidentschaftskandidatin der USA und, noch schlimmer, ehemalige Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen (UN), sagte in einem Live-Interview bei Fox-News: «Ich habe Präsident Netanjahu gesagt: Lösche sie aus. Lösche sie aus!» Oder wie soll man «finish them» sonst übersetzen? Wer’s nicht glaubt, kann sich’s selbst auf YouTube ansehen: «FINISH THEM (All)». Kurze Zwischenfrage: Ist das nicht Hatespeech «vom Besten»?
Alle? 2,2 Millionen? Warum nicht, aber auch das wäre nicht die finale Lösung, denn aus den 800’000 Palästinensern, die 1948 aus eigenen Häusern und vom eigenen Land vertrieben wurden, damit andere die Häuser und das Land bekamen, die schon Häuser hatten, in Brooklyn, in London, in Paris, in Russland, sind mittlerweile 12, 13 Millionen Palästinenser geworden, in alle Winde und über den ganzen Erdball versprengt. Man kann nicht alle umbringen, Mrs. Haley!
Gerade die Briten sollten doch historisch bei solchen Hasstiraden aufhorchen. Denn wie viele britische Offizielle sind seit 1948 Opfer des israelischen Terrorismus geworden, speziell durch deren Terrororganisation Irgun Zwai Leumi, die als Mutter des modernen Terrorismus gilt? Als pars pro toto mögen zwei Operationen dieser Organisation genügen: Der Anschlag auf das King David Hotel 1946 in Jerusalem, bei dem 93 British Officials den Tod fanden. Kopf der Organisation war kein Geringerer als der spätere Ministerpräsident Menachem Begin.
Oder denken wir an das Massaker von Deir Yassin am 9. April 1948, bei dem die Irgun dieses Dorf überfiel und plattmachte. Die genaue Zahl der Todesopfer konnte nie ermittelt werden, aber sie war im dreistelligen Bereich. Wer alle diese Fakten und noch viele mehr nicht wahrhaben will, betrügt die traurige Realität und Gegenwart.
Die grösste Lüge, die wir zur Zeit aber hören, ist die, dass der Angriff auf Israel unerwartet, überraschend und nicht provoziert war. Die nicht in alle Winde verstreuten Palästinenser leben im Gaza-Streifen oder unter illegaler militärischer Besetzung in der Westbank unter dauernden illegalen Annexionen und unter totaler Belagerung. Eben in Gideon Levys Käfig.
Viele Politbeobachter haben jahrelang vor dem gewarnt, was vergangenen Samstag, 7. Oktober 2023, geschehen ist. Gideon Levy selbst in einer Kolumne wörtlich:
«Was glaubt Ihr, was passiert, wenn man etwas in einen Dampfkochtopf steckt und die Hitze dauernd erhöht? Der Topf wird explodieren!»
Und genau da sind wir jetzt. Vielleicht kommen die Tage, an denen Israel selbstermächtigt schien, Millionen von Menschen praktisch ohne Wasser und mit selbstregulierter Stromrationierung in einem Käfig zu halten, zu einem Ende!
Yitzhak Rabin und Jassir Arafat haben sich vor 30 Jahren im Rahmen der Osloer Friedensverträge legendär die Hand geschüttelt, im Rosengarten des Weissen Hauses in Washington DC. Umgesetzt wurde, insbesonders in der Landfrage, nichts – im Gegenteil. Rabin wurde 1995 ermordet – von einem israelischen Siedler. Übrigens: Von denen gab es damals 269’000 – jetzt sind es 730’000. Ziemlich eng im Kochtopf mittlerweile.
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Dies ist der Newsletter von Marco Caimi, Arzt, Kabarettist, Publizist und Aktivist. Aus Zensurgründen präsentiert er seine Recherchen nebst seinem YouTube-Kanal Caimi Report auf seiner Website marcocaimi.ch. Caimis Newsletter können Sie hier abonnieren.
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