«Der Krieg wird, wie die meisten Kriege, letztlich nicht auf dem Schlachtfeld entschieden – dort wird er allenfalls vollendet. Er wird im ‹Hinterland› entschieden.» Das erklärt der ostdeutsche Militärhistoriker Lothar Schröter zum Ukraine-Krieg in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt (jW).
Schröter spricht darin über die Ursachen des Krieges in der Ukraine und die Chancen, diesen zu beenden. Für März ist von ihm das Buch «Der Ukraine-Krieg. Die Wurzeln, die Akteure und die Rolle der NATO» angekündigt. Wer zu den Ursachen des Ukraine-Krieges vordringen wolle, müsse tief graben, erklärt der Militärhistoriker im Interview. Dabei dürften die verständlichen Emotionen keine Rolle spielen.
Aus seiner Sicht handelt es sich nicht um einen «Konflikt zwischen zwei slawischen Brudervölkern», widerspricht er seinem Interviewpartner Frank Schumann. Im Wesen handele es sich um einen «Krieg der Nato gegen Russland», ausgetragen auf dem «Gebiet der früheren ukrainischen Sowjetrepublik». Die angebliche Hilfe des Westens für einen überfallenen Staat sei «ein propagandistischer Nebelvorhang».
«Es geht nicht um die Verteidigung von Freiheit und Demokratie, wie es heisst, sondern um die Schwächung Russlands. Dieser Staat soll als weltpolitischer Faktor ausgeschaltet werden.»
Schröter macht das als Teil eines «fundamentalen geostrategischen Umbruchs» aus, «der nur zu vergleichen ist mit der Teilung der Welt nach 1917». Der gegenwärtige «epochale machtpolitische Grundkonflikt» zwischen dem US-dominierten Westen und China, Russland sowie dem globalen Süden könne noch Jahrzehnte andauern.
«Das erste blutige Schlachtfeld»
Der Westen wolle seine unipolare Hegemonie in der Welt verewigen, während die Mehrheit der globalen Staatengemeinschaft eine multipolare Ordnung anstrebe. Dazu wolle er China bezwingen, wofür zuvor Russland in die Knie gezwungen werden solle.
«Einen Zwei-Fronten-Krieg kann der Westen niemals gewinnen, politisch nicht und militärisch erst recht nicht, zumal bei letzterem auch der eigene Untergang droht. Das erste blutige Schlachtfeld dafür manifestiert sich im Nato-Ukraine-Krieg.»
Aus Sicht des Militärhistorikers begann der Konflikt bereits mit dem Zerfall der Sowjetunion, also ab 1985, als Michail Gorbatschow KPdSU-Generalsekretär wurde. Diesen Zeitpunkt hatte auch die Politikwissenschaftler Maria Huber in ihrem 2002 erschienenen Buch «Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des Sowjetischen Imperiums» ausgemacht. Schröter verweist ausserdem gegenüber der jW auf internationale Entscheidungen in den 1990er Jahren, die bis heute nachwirken würden.
Er zählt dazu das «Budapester Memorandum» von 1994, auf das immer wieder hingewiesen wird. Darin haben laut Schröter Grossbritannien, Russland und die USA in drei separaten Erklärungen gegenüber Belorussland, Kasachstan und der Ukraine die Verpflichtung abgegeben, für den Verzicht dieser Länder auf die ehemals sowjetischen Atomwaffen, die Souveränität und die Grenzen dieser drei Staaten sowie deren politische und ökonomische Unabhängigkeit zu achten. Gegenwärtig wird immer wieder erklärt, Russland habe dagegen verstossen.
Doch dagegen hat der Westen «diese völkerrechtliche Vereinbarung zweimal heftig angegriffen», so der Historiker: und zwar bei der Unterstützung der sogenannten Orangenen Revolution 2004/2005, die dazu gedient habe, ein prowestliches Regime in Kiew zu installieren, und «2013/14 bei der Inszenierung des gewalttätigen Maidan, der dann zum angestrebten Regimewechsel führte».
Putin als Störfaktor für westliche Interessen
Er geht auch auf das veränderte Verhältnis des Westens zu Russland ein, nachdem Wladimir Putin mit Jahresbeginn 2000 dessen Präsident wurde.
«Der Grund: Die neue russische Führung begann nach ihrem Machtantritt mit einer grundlegenden Neuordnung ihrer Aussen- und ihrer Militärpolitik.»
Moskau habe sich gegen die westliche Dominanz und die militärische Lösung globaler Probleme gewandt. Der Westen dagegen wollte den Wiederaufstieg Russlands als traditionelle Gross- und Weltmacht unterbinden – «koste es, was es wolle».
Die Behauptung westlicher Politiker und Medien, Moskau beziehungsweise Putin wolle die untergegangene Sowjetunion wieder errichten, ist für Schröter «nicht nur abseitig». Damit würden auch Ursache und Wirkung vertauscht. Moskau habe sich nach der Zerschlagung Jugoslawiens und dem westlichen Krieg gegen den Irak geweigert, die Neuordnung der Welt nach westlichen Vorstellungen hinzunehmen.
Schröter widerspricht auch dem Narrativ von der «Annexion der Krim» im Jahr 2014. Es habe sich stattdessen um eine «Abspaltung, bestätigt durch ein Referendum», sowie einen Beitritt zu Russland gehandelt, erklärt er mit Verweis auf Aussagen des Rechtswissenschaftlers Reinhard Merkel im April 2014. Er fügt hinzu:
«Und dass Russland seinen wichtigsten Seekriegshafen auf der Krim sichern wollte, lag auch auf der Hand. Es drohte die Verwandlung Sewastopols in einen riesigen Marinestützpunkt der NATO. Nachdem Rumänien und Bulgarien der NATO beigetreten waren – Griechenland und die Türkei gehörten bereits dazu –, wäre langfristig das Schwarze Meer zum Mare Nostrum der NATO geworden.»
Dieses Ziel habe der US-Stratege Zbigniew Brzezinski bereits 1997 in seinem Buch über die «einzige Weltmacht» USA ausgegeben. «Russland sah sich in einer ähnlichen existenzbedrohenden Zwangssituation wie die USA 1962, als die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationiert hatte», so Schröter. Die Stationierung sei völkerrechtlich nicht zu kritisieren, während die Seeblockade der USA in der Kubakrise formal völkerrechtswidrig gewesen sei.
«Aber John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow fanden damals einen Ausweg aus dieser sehr kritischen Lage.»
Für den Militärhistoriker gehört die Nato-Osterweiterung ab Ende der 90er Jahre zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine. Damit sei das militär-strategische Gleichgewicht des kalten Krieges verschoben worden. Der SPD-Politiker Egon Bahr habe das als «Jahrhundertfehler» bezeichnet und Ex-Kanzler Helmut Schmidt im August 1993 gesagt:
«Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der Nato-Grenzen, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russland halten.»
Vertane Friedenschance
Historiker Schröter bezeichnet den Krieg in der Ukraine als «ganz schlimm und auf das Äusserste zu beklagen». Er erinnert aber mit Hinweis auf die Verhandlungen in Istanbul im März 2022 auch an Folgendes: «Wenn es nach Moskau gegangen wäre, wäre es schon nach wenigen Tagen vorbei gewesen.» Das hätten inzwischen einige der damals Beteiligten bestätigt. Zu der damals erreichten Einigung habe gehört, dass sich die russischen Truppen auf ihre Position vom 23. Februar 2022 zurückziehen, während die Ukraine garantieren wollte, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben.
Das sei nicht allein durch den Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson in Kiew am 9. April 2022 zunichte gemacht worden. Die westlichen Unterstützer Kiews, einschliesslich Deutschland, hätten als strategisches Ziel einen militärischen Sieg der Ukraine über Russland ausgegeben.
Aus Sicht des Militärhistorikers lässt aber die Bereitschaft in den westlichen Ländern für den fortgesetzten Kriegskurs der Regierungen und die anhaltende milliardenschwere Unterstützung für Kiew nach:
«Dass die Unterstützung nachlässt, die Völker kriegsmüde werden, ist nicht zu übersehen.»
Grund dafür sei das Risiko wirtschaftlicher Destabilisierung durch die ökonomische Überbelastung, die den sozialen Frieden in den westlichen Ländern gefährde. Das könnte der Kiewer Führung perspektivisch den Boden entziehen, um den Krieg fortsetzen zu können – «ungeachtet ihres breiten Rückhalts bei den überwiegend nationalistisch verhetzten Ukrainerinnen und Ukrainern».
Dagegen gebe es in Russland nicht nur eine wirtschaftliche Stabilisierung. Auch unterstütze eine «ganz grosse Mehrheit der russischen Bevölkerung» anhaltend Moskaus Vorgehen in der Ukraine.
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