Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich eigentlich in einer komfortablen Situation:
«Es ist das erste Mal in der deutschen Geschichte seit mehreren hundert Jahren, dass wir mit den Ländern im Osten und im Westen in einem partnerschaftlichen oder freundschaftlichen Verhältnis sind, zum Teil in den gleichen Bündnissen oder Organisationen. Das ist für Deutschland eine geostrategisch günstige Lage. Wir wären vom Klammerbeutel gepudert, wenn wir die gefährden würden.»
Das sagte der SPD-Aussenpolitiker Karsten Voigt im Februar 2019 in einem Interview mit mir. Seine Aussage fand ich damals auch deshalb bemerkenswert, weil Deutschland in seiner Geschichte mehrfach seine Nachbarn angegriffen oder überfallen hatte.
Ich erinnerte mich an Voigts Worte als ich unlängst den Bundeswehr-Politologen Carlo Masala klagen hörte, die Bundeswehr sei nur «bedingt abwehrbereit». Ich fragte Masala, wer denn heute Deutschland konkret bedrohe. Er sagte, niemand wolle Deutschland angreifen. Auch Russland bedrohe Deutschland «nicht durch Panzer, Kampfflugzeuge oder Fregatten». Das geschehe dagegen durch «Desinformation», potenzielle Anschläge auf unsere kritischen Infrastrukturen, Cyberattacken und «Versuche, gesellschaftliche Spaltung herbeizuführen durch fremde Mächte».
All das scheint aber die Bundesregierung auf ihrem Kriegskurs nicht weiter zu interessieren. Laut Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius muss das Land und müssen seine Menschen «kriegstüchtig werden» und wieder «wehrhaft sein». Der Minister mit SPD-Parteibuch behauptet:
«Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte.»
Möglicher Krieg gegen Russland
Warum das so sein soll, wenn niemand Deutschland angreifen will, scheint unklar. Worum es eigentlich geht, beschreibt der aussenpolitische Informationsdienst German Foreign Policy (GFP) in einem aktuellen Beitrag:
«Die Bundesregierung will die deutsche Armee weiter für einen möglichen Krieg gegen Russland um- und hochrüsten.»
Das gehe aus den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien hervor, die Boris Pistorius in der vergangenen Woche vorgelegt hat. Demnach setze Berlin unverändert auf den Aufbau militärischer Stärke und erkläre die «Abschreckung» gegenüber Moskau zum Kernauftrag der Bundeswehr, heisst es bei GFP. Von etwaigen Verhandlungslösungen und Deeskalation sei in dem Papier nicht die Rede.
Geschichtsverdrehend und Fakten, wie den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999, ignorierend behauptet Pistorius, der Krieg sei «mit Putins brutalem Angriff gegen die Ukraine nach Europa zurückgekehrt». Deshalb müsse Deutschland so schnell wie möglich «kampfbereit» werden, heisst es in den Richtlinien.
Kontinuierlicher Kurs
«Die beiden Kernpunkte des Dokuments – der Ausbau der nationalen militärischen Fähigkeiten sowie die Ausrichtung der Bundeswehr auf einen Krieg mit Russland – stellen dabei keine ‹Wende› in der deutschen Militärpolitik dar», so GFP dazu. Beides treibe die Bundesregierung seit Jahren, «über mehrere Legislaturperioden hinweg, kontinuierlich voran». Auf der Grundlage neuer militärischer Stärke beanspruche Berlin eine militärische Führungsrolle in Europa und «Gestaltungsmacht» in der NATO.
In den neuen Richtlinien wird die Bundeswehr als «Kerninstrument» der deutschen Sicherheitspolitik bezeichnet. Statt auf Diplomatie setzt die Bundesregierung laut GFP auf «umfassende militärische Vorbereitung bereits im Frieden». Es werde der «Anspruch gesicherter militärischer Handlungsfähigkeit» erhoben und «Kriegstüchtigkeit» zur übergeordneten «Handlungsmaxime» erklärt.
Die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr solle erhöht werden, samt der «Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht». Dazu werde auch die weitere Aufrüstung als notwendig erklärt und die dauerhafte Erhöhung des bundesdeutschen Militärhaushaltes auf «mindestens» zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung angekündigt, so GFP.
«Mit den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien legt Berlin seinen sicherheitspolitischen ‹Fokus› ausdrücklich ‹auf die Sicherheit vor der Russischen Föderation›», heisst es bei dem Informationsdienst. Das Papier stellt eine «unmittelbare Bedrohung für die Souveränität und territoriale Integrität Deutschlands» fest – entgegen aller bekannten Fakten.
Ziel: Sieg gegen Russland
Die Bundeswehr soll dem Papier nach dauerhaft an der «NATO-Ostflanke» aktiv sein, das heisst an der russischen Grenze. Dazu gehört die geplante permanente Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen.
Zur «Auseinandersetzung» mit Russland heisst es laut GFP in den Richtlinien: «Wir wollen (...) nicht nur gewinnen, sondern wir müssen». Dem Sieg über Russland seien «alle weiteren Aufträge und Aufgaben (...) nachgeordnet».
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien stellen dabei «zwar eine Eskalation, aber keineswegs eine Wende in der deutschen Aussen- und Militärpolitik dar», hebt der Informationsdienst hervor. Er macht auf die Kontinuitäten aufmerksam, seitdem 1992 die damaligen Richtlinien erstmals den Anspruch erhoben haben, den «ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt» bei Bedarf auch militärisch durchzusetzen.
Die mit dem Kurs auf «Kriegstüchtigkeit» verbundene Aufrüstung betreibe Berlin seit der 2014 erfolgten Schwerpunktverschiebung hin zur «Landes- und Bündnisverteidigung» zunehmend im Rahmen der NATO-Vorgaben. Aber zugleich trete die Bundesrepublik ihren Verbündeten in Europa und den USA in dem Papier mit einem neuen Selbstbewusstsein gegenüber, so GFP:
«Sie meldet ‹Führungswillen› an, sieht sich in einer ‹Führungsverantwortung› und erhebt nicht nur innerhalb der EU, sondern auch für die NATO Anspruch auf eine ‹gestaltende Rolle›.»
Langfristige Kontinuitäten
«Die Interessen haben sich nicht geändert. Sie sind nach Osten gerichtet. Wenn Russland als Nachfolger der Sowjetunion nicht bewaffnet wäre, auch mit Atomwaffen, wäre es wahrscheinlich schon wieder zu Krieg gekommen oder wir stünden unmittelbar davor.»
Das hatte der letzte Chef der DDR-Auslandsaufklärung, Werner Großmann, 2017 in einem Gespräch mit mir erklärt. Inzwischen wird in der Ukraine zumindest ein Stellvertreterkrieg gegen Russland geführt, der aber nach westlichem Willen nicht in einen Atomkrieg führen darf. Die Interessen bleiben weiter unverändert. Großmann sagte damals auch:
«Der Imperialismus wird sich nie nach Appellen richten. Wenn sie die Gelegenheit haben, ihre Interessen zu verwirklichen, dann werden sie das tun, auch mit militärischen Mitteln. Wenn sie anders denken würden, dann würde die NATO heute gar nicht mehr existieren.»
Da ist auch noch das «Friedensgebot» des Grundgesetzes. Aber das wurde 1949 eher unkonkret formuliert. Wie Dieter Deisenroth 2010 feststellte, ist es dehnbar auslegbar. Wenn es konkret wird, spielt es auch kaum eine Rolle, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages Anfang dieses Jahres zum Thema Waffenlieferungen an die Ukraine zeigte. Und es geht bei der «Kriegstüchtigkeit ja nur um «Verteidigung», behauptet Pistorius.
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