Das hatte mich denn schon sehr beeindruckt, das Telefongespräch gestern Freitagabend. Es ist ja nicht so, dass mir die Sache neu gewesen wäre, aber das Bekenntnis kam so spontan und von Herzen, dass es nur eines gewesen sein kann: von Grund auf ehrlich und authentisch.
Wir hatten es von unserer gottesdienstlichen Feier am kommenden Sonntag unterhalb des Hambacher Schlosses. Im Rahmen der üblichen zweiwöchigen Kundgebungen wird diesmal, am 17. Dezember, der Advent im Vordergrund stehen und was der mit unserer Freiheit zu tun haben könnte.
Meine Rückfrage an einen dortigen Mitarbeiter war: «Wollen wir das zugleich als eine Weihnachtsfeier verstehen? Viele sind ja aus den Kirchen ausgetreten und werden wohl kaum an den Feiertagen einen Gottesdienst besuchen.» Bruchteile von Sekunden darauf die Entgegnung: «Ja, unbedingt. Das ist so; auch mich selber bringen keine zehn Pferde mehr in eine Kirche nach alldem, was die sich in den letzten Jahren geleistet haben!»
Ich schenke es mir an dieser Stelle, das entsprechende Sündenregister im einzelnen aufzudröseln. Wer von den Amtlichen sich sein Gewissen erhalten hat, der kann sich denken, was gemeint ist; allen Ausgewanderten und -gestossenen ist es ohnehin klar.
Am gleichen Tag zufällig habe ich mir eine Podiumsdiskussion angeschaut. Sie fand im vergangenen Oktober bei einem Symposium des Netzwerks KRiStA statt zum Thema «Rechtsstaat und Demokratie in der Krise». Die Professorin Ulrike Guérot verwies dabei (ab Minute 33 etwa) auf einen Vortrag ihrer französischen Kollegin Ariane Bilheran über «Die drei Charaktertypen, die der totalitären Versuchung widerstehen werden»; als da wären:
- «diejenigen, die eine Form von Jenseitigkeit haben, also die man mit der Angst vor dem Tod nicht jagen konnte, die Gläubigen;
- diejenigen, die haptisch arbeiten, also einfache Leute, Bäcker, Schlosser und so weiter; und als Drittes
- diejenigen, die es schon einmal erlebt haben, Ex-DDR und so.»
Das seien «die drei Charaktertypen, die dem, was passiert ist, am ehesten widerstanden haben». Verblüfft antwortete ihr die Rechtswissenschaftlerin Katrin Gierhake: «Dann wären unsere Kirchen aber gesättigt mit Ungläubigen!?» – Ein zweifaches «Ja, ja!» vom Podium ergänzte die ebenfalls unüberhörbare Zustimmung aus dem Publikum.
Ulrike Guérot wiederum: «Ich meine ja auch nicht die Kirchen als Institution. Aber gehen Sie `mal in den christlichen Widerstand, den gibt’s ja.» Und: «Das ist genau das Problem: Alles, was institutionalisiert war, hat nicht funktioniert: am ehesten nicht der Wissenschaftsbetrieb, die Kirchen nicht, die Gerichte nicht, also alles was institutionalisiert, also gekoppelt war an Gelder von staatlichen Geschichten ...».
Hinter den Kirchen liegen also Berge an Versagen, an nicht wahrgenommenen Möglichkeiten, an aktiver Nächstenunliebe. Weil aber Leben immer in einer Spannung geschieht, im Zugfeld der beiden Brennpunkte von Vergangenheit und Zukunft, tut sich die nächste Frage auf: Was liegt denn eigentlich vor uns?
Nicht wenig,
«denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende»; Jesaja 9, Vers 5.
Zu schön, um wahr zu sein? – Zu schön, um nicht wahr zu werden! Wenn es ein Kennzeichen der Gläubigen war, dass man sie «mit der Angst vor dem Tod nicht jagen konnte», dann lassen die sich auch nicht mit der Angst vor dem eigenen Stückwerk zurückhalten; zurückhalten davon, diese Botschaft auf sich selber wirken zu lassen, auf die geschundene Seele, den verwirrten Verstand, das entgleiste Leben, und durch sie neuen Halt zu gewinnen.
Es stimmt schon: Dafür braucht man eigentlich keine «Kirche», keine staatsverbandelte Institution, deren Vertreter sich in grosser Zahl damit beschäftigen, wie sie überleben und zur eigenen Rechtfertigung irgendeine «Relevanz» unter Beweis stellen könnten, wie mir das in den letzten Tagen eine Kollegin «noch von drinnen» beschrieben hatte.
Dafür braucht es neue Formen und Wege, die frei sind vom Verdacht, dass man doch nur wieder «etwas von den Leuten will», sie also zu irgendeiner Systemerhaltung beitragen sollten. Und dafür braucht es die kleine Bereitschaft, über manche unguten Erfahrungen probeweise hinwegzuspringen und dem Original ein Ohr zu schenken:
- dem Wunder-Rat gegen die eigene Ratlosigkeit,
- dem Gott-Held gegen aufgeblasene Ungeister,
- dem Ewig-Vater gegen alle Angst, wie man denn durchkommen soll,
- dem Friede-Fürst gegen alle Fetischisten des Gegeneinander.
Was dabei dann rauskommt? Zum Beispiel jene eingangs beschriebenen Charaktertypen, die aus solchem Glauben nicht nur «der totalitären Versuchung widerstehen», sondern die darüberhinaus jene Gemeinschaft bilden, die wie nebenbei dem eigentlichen Namen «Kirche» entspricht: «die Herausgerufenen» oder auch «die dem HErrn Gehörigen».
Lassen wir’s auf uns zukommen: die neuen Formen und was immer draus wird. Wir sind frei zum Suchen und frei zum Finden.
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Wort zum Sonntag vom 3. Dezember 2023: Warten und überwinden
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.
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