Die US-Machteliten tun alles, um dem WikiLeaks-Gründer das Leben so schwer wie möglich zu machen. Noch immer fordern sie seine Auslieferung. Die Autorin Karen Sharpe hat sich die Arbeit gemacht, die Motive und Absichten von Assanges Kampfs für mehr Transparenz und Demokratie darzulegen.
Für ihr Buch «Julian Assange parle» hat sie wichtige Beiträge und Reden von Assange gesammelt. Darin lässt sie den WikiLeaks-Gründer, der heute weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, zu Wort kommen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Auszüge aus dem Vorwort von Michel Collon und Viktor Dedaj.
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Wie ist es möglich, dass ein australischer Journalist (…) aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit in England in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt und auf seine Auslieferung an die USA wartet? Assange ist nicht einmal der US-Gerichtsbarkeit unterstellt.
Die Antwort ist einfach: Im Fall Assange handelt sich um einen politischen Prozess. Um eine Strafaktion. Hier haben sich die höchsten politischen und gerichtlichen Behörden mehrerer Staaten zusammengeschlossen, um das Leben Assanges so schwer wie möglich zu machen.
Assanges Gerichtsverfahren ist gekennzeichnet von ungeheuerlichen Unregelmässigkeiten. Geleitet wird der Prozess von Lady Emma Arbuthnot, die persönlich von den WikiLeaks-Enthüllungen betroffen ist.
«Lady Arbuthnot und ihr Ehemann profitierten von Geschenken und der Gastfreundschaft eines Cybersicherheitsunternehmens, das WikiLeaks aufgedeckt hatte. [...] Als Lady Arbuthnot den Vorsitz in Assanges Rechtsfall übernommen hatte, sprach ihr Ehemann zur gleichen Zeit mit hochrangigen Beamten in der Türkei, die von WikiLeaks blossgestellt worden waren. Einige dieser Beamten haben ein Interesse daran, Assange und die WikiLeaks-Organisation zu bestrafen.»
Die Anhörungen wurden von Vanessa Baraitser geleitet. Sie ist bekannt dafür, vorab verfasste Schlussanträge vorzulesen. Wenn die Verteidigung das Wort ergreift, kichert sie auch schon mal.
Die USA änderten ihre «Anschuldigungen» gegenüber Assange dreimal. Man könnte meinen, dass sie sich nicht ganz sicher gewesen seien, warum sich Julian Assange in ihren Augen schuldig gemacht haben könnte.
Willkür ohne Ende. Julian Assange ist nach dem ersten Tag des Prozesses kurz «freigelassen» worden. Dies, weil die USA ihre ursprüngliche Anklage fallen liessen. Danach wurde er sofort wieder verhaftet. Nach Ablauf der entsprechenden Frist kamen sie mit neuen Anklagen.
Unregelmässigkeiten sind an allen Ecken und Enden zu beobachten. Die Liste ist endlos. Um nur einige Beispiele zu nennen: Da sind einmal die Vergewaltigungsvorwürfe, die möglichst lange aufrechterhalten wurden. Das belegen E-Mails zwischen britischen und schwedischen Staatsanwälten (…).
Amnesty International wird der Zugang zum Gerichtssaal verwehrt, laut der Organisation ein Novum im Westen. Mitarbeiter von Reporter ohne Grenzen kämpften mit Schwierigkeiten, um bei den Anhörungen dabei zu sein – nicht einmal per Videokonferenz bekamen sie alles mit. Die Videoverbindungen sind ständig fehlerhaft, für einen modernen Justizapparates unwürdig.
Verteidiger haben gerade einmal eine halbe Stunde Zeit, um die Zeugen zu befragen. Die Verteidiger des US-Justizministeriums haben vier Stunden Zeit. Dokumente, die von der Verteidigung vorgelegt werden, werden nicht akzeptiert. Umgekehrt werden Dokumente akzeptiert, welche die Anklage vorlegt. Und so weiter und so fort.
Doch das ist noch nicht alles. Der Hauptzeuge der Anklage ist der Isländer Sigurdur Thordarson. Bei ihm handelt es sich (…) um einen verurteilten Pädophilen. Er gab zu, Anschuldigungen erfunden zu haben. Im Gegenzug erhielt er vom FBI Immunität. (…)
Das FBI wusste das alles. Die Behörde griff aber weiterhin auf den falschen Zeugen zurück, um ihn für die Kampagne zur Dämonisierung von Assange einzuspannen.
Die CIA wiederum bereitete auf Anweisung der US-Regierung Szenarien vor, um Julian Assange zu entführen oder sogar zu ermorden. Sie hörte alle privaten Gespräche Assanges mit seinen Anwälten in der ecuadorianischen Botschaft ab (…).
Diese Rechtswidrigkeit hätte allein schon zur Einstellung des Verfahrens führen müssen. Zwar lehnte ein Urteil am 4. Januar 2021 – wider Erwarten – die Auslieferung Assanges an die USA ab.
Allerdings bloss aus «humanitären» Gründen: Aus Angst um die psychische Gesundheit des Angeklagten. Für diesen Zustand ist die britische Justiz verantwortlich, die Assange zehn Jahre nicht auf freiem Fuss laufen liess. (…)
Julian Assange wird zwar einmal freigelassen. Aber er wird sofort in ein Hochsicherheitsgefängnis zurückgeschickt – ohne Rücksicht auf seine geistige Gesundheit! Weil die USA Berufung einlegten.
Diejenigen, die ständig lügen, beschliessen also, diejenigen ins Gefängnis zu schicken, die diese Lügen aufgedeckt haben.
Unwissenheit herstellen
Die Mainstream-Medien haben über all diese Verfahrensunregelmässigkeiten nicht berichtet – mit sehr wenigen Ausnahmen. Schlimmer noch: Sie haben die Gerüchte und Verleumdungen weiterverbreitet, welche die US-Geheimdienste mit ihrer Dämonisierungskampagne organisiert hatten.
Dabei sind wichtige Fakten verschwiegen worden. Dadurch ist es den Gegnern Assanges gelungen, ihn in einem völlig anderen Licht erscheinen zu lassen. Warum ist das so?
In einem diktatorischen Regime kann ein politischer Prozess zu einem Schauprozess führen, bei dem der Schuldige dem Volkszorn preisgegeben wird. In einer Demokratie muss ein politischer Prozess jedoch im Verborgenen stattfinden – weit weg vom Blick der Öffentlichkeit. Der Prozess muss möglichst in die Randbereiche unserer peripheren Sicht (…) verbannt und auf anekdotische Aspekte reduziert werden.
Im Westen kann ein politischer Prozess nur dann «erfolgreich» sein, wenn die Informationen einen wichtigen Teil der Realität ausblenden und die Ankläger reinwaschen.
In Wirklichkeit geht es darum, Unwissenheit zu erzeugen. Das weit verbreitete Bild von Julian Assange ist nicht vom Himmel gefallen. Es lautet: «Das ist ein grössenwahnsinniger, frauenfeindlicher und vergewaltigender Widerling, der sich mit den Russen eingelassen, Verbrechen begangen und durch seine unverantwortlichen Handlungen Leben gefährdet hat.»
Die Wahrheit ist: Wenn Sie den Fall Julian Assange/WikiLeaks nicht genau verfolgt haben, ist wahrscheinlich alles falsch, was Sie über diesen Fall zu wissen glauben.
Nein: WikiLeaks hat niemals Leben durch «unverantwortliche Veröffentlichungen» in Gefahr gebracht. (…) Nein: WikiLeaks ist keine Hackerorganisation.
WikiLeaks ist eine Website, die Whistleblowern Zuflucht bietet. Nein: WikiLeaks hat nicht dafür gesorgt, dass Hillary Clinton verliert. Nein: WikiLeaks arbeitet nicht für Russland. Eine kurze Suche auf der Website WikiLeaks.org genügt, um sich davon zu überzeugen. (...)
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Über die Autoren:
Karen Sharpe: Journalistin, Schriftstellerin und Herausgeberin. Als Universitätsprofessorin für Englisch ermutigte sie ihre Studenten, die Welt zu hinterfragen, um sie besser zu machen. Sharpe lebt seit 20 Jahren in Paris.
Viktor Dedaj: Als pensionierter Informatiker und Administrator der alternativen Nachrichtenseite «Le Grand Soir» berichtet er über die Affäre seit ihren Anfängen im Jahr 2010. Er ist Autor zahlreicher Artikel zu diesem Thema sowie Übersetzer des Buches «Julian Assange parle» von Karen Sharpe und Mitbegründer des Verteidigungskomitees von Julian Assange.
Michel Collon ist Journalist, Autor und Gründer und Betreiber der Informationsplattform Investig’Action.
Buch-Hinweis:
Karen Sharpe: Julian Assange parle. Investig’Action, 2021. 200 S., 15,00 €. ISBN: 978-2930827933
Weitere Infos und Bestellung hier und hier. Wer zwei weitere Bücher bei Investig’Action kauft, erhält die französische Version von Sharpes Buch gegenwärtig gratis.
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