Gestern und heute findet in Berlin der Deutsche Pflegetag statt. Ein zentrales Thema ist dabei der Mangel an Pflegekräften. Der Bedarf an solchem Personal steigt in Deutschland, berichtete die Zeit im Juli, doch die Zahl Auszubildender gehe zurück. Das Statistische Bundesamt prognostizierte Ende März, dass es 2055 allein durch zunehmende Alterung 37 Prozent mehr pflegebedürftige Menschen geben wird.
Deutschland will diesem Mangel unter anderem mit internationalen Anwerbungsmassnahmen in Regionen wie Lateinamerika, Osteuropa und Asien begegnen. So reiste der deutsche Bundesarbeitsminister Hubertus Heil letzten Juli nach Indien, um Pflegekräfte anzuwerben, teilte die Zeit in einem anderen Beitrag mit. Zuvor sei er mit demselben Ziel in Brasilien gewesen.
Indien, insbesondere der Bundesstaat Kerala, ist zu einem Schwerpunkt solcher Kampagnen geworden. Es gehöre zu den wichtigsten Herkunftsländern von zuwandernden Pflegekräften in OECD-Ländern, informierte Peoples Health Dispatch. Krankenschwestern und -pfleger würden von Deutschland angezogen, weil sie ein stabiles soziales Unterstützungsnetz sowie bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen erwarten, wobei das Land kein Standardziel sei.
Obwohl indische Krankenschwestern bei ihrer Ankunft in Deutschland mit Problemen bei der Akkreditierung und der Sprache konfrontiert seien, würden die Vorteile der Arbeit in Deutschland oft die Hindernisse überwiegen, so das Portal.
Kerala bringe jährlich eine hohe Zahl von Absolventen im Pflegebereich hervor, doch die Beschäftigungsmöglichkeiten vor Ort, insbesondere in öffentlichen Einrichtungen, seien begrenzt. Viele Krankenschwestern und -pfleger würden Jobs in privaten Krankenhäusern als Sprungbrett zur Auswanderung in die Golfstaaten und englischsprachigen Länder sehen.
Laut Peoples Health Dispatch nimmt die Besorgnis über die Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Sektor aufgrund der Privatisierung des Gesundheitswesens und der neoliberalen Politik zu. Daher würden immer mehr Krankenpflegeschüler die Absicht äussern, auszuwandern.
Das Portal weist darauf hin, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2016 den Globalen Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitspersonal eingeführt hat. Dieser soll die für die Gesundheitssysteme im Globalen Süden schädlichen Anwerbungspraktiken teilweise eindämmen. Es ist allerdings ein freiwilligen Instrument. Gemäss Peoples Health Dispatch hat bereits 3,2 Prozent des im Ausland tätigen Pflegepersonals aus Kerala Deutschland als Zielland gewählt. Das Portal schliesst:
«Dieser Trend ermöglicht es Deutschland, ähnlich wie andere Länder mit hohem Einkommen, auf gut ausgebildete Arbeitskräfte zu einem Bruchteil der Kosten zurückzugreifen, die für die Ausbildung von Fachkräften im Inland anfallen würden.»
Bereits im August hatte Peoples Health Dispatch auf den Besuch des deutschen Bundesarbeitsministers Hubertus Heil in Brasilen aufmerksam gemacht. Ein Treffen zwischen Heil und seinem brasilianischen Amtskollegen Luiz Marinho habe bei Gesundheitsrechtsgruppen die Sorge ausgelöst, dass die deutsche Strategie die Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme in den Herkunftsländern nicht berücksichtigt.
Entgegen der Annahme, Brasilien habe einen Überschuss an Pflegepersonal, habe das Land ein niedrigeres Verhältnis von Krankenschwestern und -pflegern zu Patienten als Deutschland. Das Portal erläutert:
«Die hohen Arbeitslosenzahlen, die zur Untermauerung der Behauptungen über einen Überschuss an Krankenschwestern und -pflegern in Brasilien herangezogen werden, sind kein Indikator für eine Sättigung. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass mehr in das öffentliche Gesundheitssystem in Brasilien investiert werden muss, unter anderem durch die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen.»
Der deutsche Verein demokratischer Ärzt*innen (vdää*) und der Centro Brasileiro de Estudos de Saúde (CEBES) haben ein Positionspapier veröffentlicht, in dem sie die Probleme bei der Personalbeschaffung betonen. Eine grosse Herausforderung sei die unterschiedliche Pflegeausbildung in Brasilien und Deutschland, die zu Schwierigkeiten für neu angekommene brasilianische Krankenschwestern führe. Sie würden oft als Pflegehelfer mit geringerem Einkommen und unpassenden Aufgaben arbeiten, bis ihre Qualifikationen angeglichen sind, was Monate bis Jahre dauern könne.
Vermittlungsagenturen würden manchmal unrealistische Versprechungen machen, die Probleme beim Erlernen der Sprache herunterspielen und finanzielle Risiken auf die Krankenschwestern abwälzen. Der Integrationsprozess sei oft unzureichend, was zu Frustration führe und die Diskriminierung und Stereotypen unter den zugewanderten Krankenschwestern und -pflegern verstärke.
Beim Narrativ über die Anwerbung von Krankenschwestern und -pflegern aus Brasilien fehle zudem der Kontext, so Karen Spannenkrebs, Ärztin und Aktivistin des vdää*. Die unzureichenden Investitionen und Haushaltskürzungen im brasilianischen Gesundheitssystem hätten zu schlechten Arbeitsbedingungen und Einkommen geführt, was die Migration zu einer attraktiven Option für Pflegekräfte mache. Deutschland mache sich diese Probleme bei der Anwerbung zunutze. Spannenkrebs machte klar:
«Der weltweite Fachkräftemangel im Gesundheitswesen kann nicht durch die internationale Anwerbung von Gesundheitspersonal gelöst werden. Dadurch wird die Krise nur von einem Land zum anderen verlagert, entsprechend den globalen Finanz- und Machtungleichgewichten. Wir müssen für starke Gesundheitssysteme kämpfen, die überall gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen ermöglichen.»
**********************
Unterstützen Sie uns mit einem individuellen Betrag oder einem Spenden-Abo. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag für unsere journalistische Unabhängigkeit. Wir existieren als Medium nur dank Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Vielen Dank!
Oder kaufen Sie unser Jahrbuch 2022 (mehr Infos hier) mit unseren besten Texten im Webshop:
Kommentare