In diesen kriegerischen Zeiten ist es wichtiger denn je, die wahren Gründe vergangener Kriege zu verstehen, damit man heute weiteren Eskalationen entgegenwirken kann. Um die Erinnerung an den NATO-Angriffskrieg auf Serbien vor genau einem Vierteljahrhundert wachzuhalten, werden wir in dieser Serie elf Wochen lang einmal wöchentlich dessen Hintergründe beleuchten. Genauso lange wurden die Serben bombardiert. Nachfolgend wird die Serie mit Teil 2 fortgesetzt (Teil 1).
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Im Schwitzkasten internationaler Gläubiger
Im Westen wurden die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien als Höhepunkt historisch gewachsener ethnischer und religiöser Feindseligkeiten dargestellt. Bei einem gewissen Mass an sozialer und materieller Sicherheit ist es allerdings so, dass verschiedene nationale Gruppen dazu neigen, miteinander auszukommen und sogar untereinander zu heiraten. Das war auch in Jugoslawien der Fall. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten konkurriert jedoch jeder um einen Anteil am schrumpfenden Kuchen. Diese Tatsache kann ausgenützt werden, um interne Konflikte herbeizuführen. Und wenn einmal Blut geflossen ist, kommt der Teufelskreis der Rache in Gang.
Die Professorin für Politikwissenschaft und Balkan-Expertin Susan Woodward stimmt dem in «Balkan Tragedy» zu:
«Spannungen entlang ethnischer, rassischer oder historischer Verwerfungen können zu ziviler Gewalt führen, aber die jugoslawische Krise als Ergebnis ethnischen Hasses zu erklären, hiesse, die Geschichte auf den Kopf zu stellen und an ihrem Ende zu beginnen.»
«Ein innerjugoslawischer Wirtschaftskrieg ging dem Schiesskrieg voraus», bestätigt Hannes Hofbauer in seinem Buch «Balkankrieg – Zehn Jahre Zerstörung Jugoslawiens». Slowenien und Serbien hätten einander bereits seit 1989 boykottiert, gegenseitige Einfuhrverbote hätten die Wirtschaftspolitik bestimmt; ehedem gemeinsam entwickelte Energiekonzepte, republikübergreifende Zulieferungen im Industriebereich, sogar die Zolleinnahmen seien «zum Kampfmittel Nord gegen Süd, Süd gegen Nord, Republik gegen Republik» geworden.
Die Gründe dafür reichen bis in die späten 1960er Jahre zurück. Damals beging Jugoslawien nämlich einen verhängnisvollen Fehler: Wie in anderen osteuropäischen sozialistischen Ländern nahmen dessen Führer in grossem Umfang Kredite im Westen auf. Dem US-Historiker Michael Parenti zufolge war das Ziel, gleichzeitig die industrielle Basis des Landes, die Exportproduktion und die Produktion von Konsumgütern im Inland auszubauen. Doch dann gerieten die westlichen Volkswirtschaften in eine Rezession und blockierten die jugoslawischen Exporte. Dadurch gingen die Exporteinnahmen des Landes zurück und es entstand für Belgrad eine enorme Verschuldung:
«Diese massive Verschuldung begann ihre eigene zinsgetriebene Dynamik zu entwickeln. Kurzerhand forderten die Gläubiger, darunter die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), wie bei so vielen anderen Schuldnerstaaten auch, eine ‹Umstrukturierung›. Die Umstrukturierung besteht aus einem drastischen Sparprogramm neoliberaler ‹Reformen›: Lohnstopp, Abschaffung staatlich subventionierter Preise, Erhöhung der Arbeitslosigkeit, Beseitigung der meisten von Arbeitnehmern geführten Unternehmen und massive Kürzungen der Sozialausgaben. Die Jugoslawen sollten weniger konsumieren und mehr produzieren, so dass ein grösserer Teil des nationalen Reichtums zur Begleichung der Schulden verwendet werden konnte. Die Umstrukturierung brachte neoliberale Verwüstungen mit sich.»
Hunderte von Unternehmen wurden in den Konkurs getrieben. Die Weltbank selbst ermittelte in einem Bericht vom Juni 1991, dass das 1989 und 1990 zu 600’000 Entlassungen führte, wobei weitere Hunderttausende monatelang ohne Lohn arbeiteten. Zehntausende waren gezwungen, als Gastarbeiter in Westdeutschland, der Schweiz und anderswo Arbeit zu finden. Gemäss der Weltbank sank die Industrieproduktion, die in den späten 1960er Jahren im Durchschnitt um mehr als sieben Prozent pro Jahr gewachsen war, in den 1980er Jahren auf weniger als drei Prozent und bis 1990 auf minus zehn Prozent.
Gemäss dem kanadischen Ökonomen Michel Chossudovsky ermöglichte das «Finanzhilfepaket» des IWF und der Weltbank einen Zustrom von Importen und unbeschränktem Auslandskapital, was zu einem weiteren Einbruch der inländischen Produktion führte. Die Transferzahlungen von Belgrad an die Republiken seien eingefroren worden, was wiederum die föderale Finanzstruktur untergraben habe. Die drastische wirtschaftliche Depression, die durch die IWF-Umstrukturierung ausgelöst wurde, habe ihrerseits dazu beigetragen, die darauf folgenden ethnischen Konflikte und Sezessionsbewegungen zu schüren.
Im Januar 1991 beging Milošević dann aus Sicht der «freien Marktwirtschaft» die ultimative Sünde: Er liess die Notenpresse laufen. Die Notenbank der Bundesrepublik druckte Dinar für umgerechnet 1,8 Milliarden Dollar. Damit wurden ausständige Löhne von Staats- und Gemeindebedienstete ausbezahlt. Hofbauer erläutert:
«Dem IWF-Sanierungsplan, der ja gerade auf der Geldverknappungspolitik und den Lohnkürzungen beruhte, war damit der Todesstoss versetzt. ‹Bankraub› und ‹Falschgeld-Skandal› riefen slowenische und kroatische Politiker. Westliche Finanzblätter titelten mit empörten Losungen: ‹Entmachtung der Nationalbank› und ‹Serbiens Selbstbedienungssozialismus› hiess es beispielsweise in den Neuen Zürcher Zeitung, die den Zugriff der serbischen Autoritäten auf die Notenbank scharf kritisierte.»
Miloševićs Schritt war gemäss Hofbauer nur aufgrund der Struktur der seit ihrer Gründung nicht unabhängig funktionierenden Notenbank möglich. Grosse Unternehmen und Republiken hätten sich de facto als Eigentümer der Banken gefühlt, auch der Notenbank:
«Sie waren es noch aus sozialistischen Zeiten gewohnt, eintretende Verluste, früher oder später von Bankseite her abgedeckt zu bekommen. Insofern hatte die Praxis, die Notenpresse einzuschalten, Tradition. Der versuchte ‹Konvertibilitätpakt› des IWF war mit einer solchen Praxis freilich nicht kompatibel.»
Wie Parenti in seinem Buch «To Kill a Nation - The Attack on Yugoslavia» erklärt, erlangten die internationalen Gläubiger im selben Jahr die Kontrolle über die Geldpolitik. Die staatlichen Banken Jugoslawiens wurden aufgelöst, und die Bundesregierung hatte keinen Zugang mehr zu ihrer eigenen Zentralbank. Der Historiker resümiert:
«Mit wenigen Handgriffen trugen die internationalen Gläubiger dazu bei, die Bundesrepublik Jugoslawien zu zerstückeln und die neuen ‹unabhängigen› Republiken in einen fiskalischen Schwitzkasten zu nehmen.»
Die Serbische Republik widersetzte sich jedoch den Sparprogrammen, denen die Bundesregierung zugestimmt hatte. Etwa 650’000 serbische Arbeitnehmer beteiligten sich Parenti zufolge an massiven Streiks und Protesten, denen sich in vielen Fällen auch Arbeitnehmer anderer ethnischer Gruppen wie Kroaten, bosnische Muslime, Roma und Slowenen anschlossen. In den 1990er Jahren habe sich die jugoslawische Föderation (Serbien und Montenegro) weiterhin als widerspenstig erwiesen. Sie habe sich geweigert, hauptsächlich für den Export zu produzieren und habe nicht vollständig privatisieren wollen. Noch 1999 hätten sich mehr als drei Viertel der Grundstoffindustrie in staatlichem Besitz befunden:
«Aus Sicht der westlichen Marktwirtschaft mussten diese Unternehmen entweder privatisiert oder demontiert werden. Eine massive Zerstörung aus der Luft, wie sie im Irak stattgefunden hat, könnte genau das Richtige sein, um Belgrad in Einklang mit der Neuen Weltordnung zu bringen.»
Zuvor versuchte man jedoch, dieses Ziel durch Sanktionen zu erreichen. John und Karl Mueller schrieben in der Zeitschrift Foreign Affairs, dass Wirtschaftssanktionen inzwischen wohl als die wichtigste Massenvernichtungswaffe angesehen werden können, da sie möglicherweise «in der Zeit nach dem Kalten Krieg zu mehr Todesfällen beigetragen haben als alle anderen Massenvernichtungswaffen in der Geschichte». Parenti ergänzt:
«Die Zivilbevölkerung erleidet durch Sanktionen keine zufälligen oder kollateralen Schäden; sie sind das Hauptziel.»
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