Stellen Sie sich vor, ein Philosophieprofessor wird zu einem Podcast eingeladen. Die Moderatoren bitten ihn, ein Gedankenexperiment zum Thema sexuelle Tabus zu beschreiben, das er interessant oder provokant findet. Er entscheidet sich für ein Szenario, in dem ein Mann Sex mit einem «willigen» 12-jährigen Mädchen hat, und sagt dann, dass der Mann in seinem Beispiel nicht zwingend schuldig wäre oder moralisch falsch handeln würde.
Es hänge davon ab, welcher Schaden dem Kind zugefügt worden sei. Und es gebe einige Situationen, in denen die sexuellen Handlungen keinen Schaden verursachen würden.
«Wäre das vom Professor vorgeschlagene Gedankenexperiment moralisch falsch?», fragt Kathleen Stock, ehemalige Professorin für Philosophie, in ihrem Unherd-Beitrag «Kann Pädophilie jemals ein Gedankenexperiment sein? Philosophieprofessoren sind nicht mehr sicher» (siehe Screenshot oben). Hintergrund ist folgender:
Der amerikanische Philosophieprofessor Stephen Kershnar war Anfang 2022 zu Gast in dem Podcast Brain in a Vat, um das Thema «Sexuelle Tabus» zu diskutieren. Er wählte genau das skizzierte Gedankenexperiment aus, zu dem er dann von Brain in a Vat (was so viel heisst wie «Gehirn in einem Behältnis») befragt wurde. Darin sagte er:
«Stellen Sie sich vor, dass ein erwachsener Mann mit einem 12-jährigen Mädchen Sex haben möchte – und dass sie willig ist mitzumachen. Eine weit verbreitete Ansicht ist, dass daran etwas zutiefst falsch ist. Und es ist falsch, unabhängig davon, ob es kriminalisiert wird. [Aber] es ist für mich nicht offensichtlich, dass dies tatsächlich falsch ist. Ich denke, das ist ein Fehler. Und ich denke, wenn wir herausfinden, warum es ein Fehler ist, erfahren wir nicht nur etwas über Sex von Erwachsenen mit Kindern und Vergewaltigung, sondern auch über grundlegende Prinzipien der Moral.»
Insbesondere seine Aussage, es sei für ihn «nicht offensichtlich, dass dies tatsächlich falsch ist», wurde ihm zum Verhängnis. Diese Passage ging viral, nachdem der Social-Media-Account LibsofTikTok darüber berichtet hatte.
Stephen H. Kolison Jr., der Präsident der State University of New York at Fredonia, Kershnars Lehranstalt, bezeichnete die Äusserungen des Professors als «absolut abscheulich», wie die New York Times kürzlich schrieb. Und er erklärte, dass der Mitfünfziger nun mit Aufgaben betraut werde, die keinen Kontakt zu Studierenden erfordere.
Dabei wurde ihm auch unausgesprochen unterstellt, er hätte unbeabsichtigt seine eigenen pädophilen Vorlieben verraten, wie es in dem Unherd-Artikel heisst. Und weiter:
«Damit soll nicht gesagt werden, dass Kershnar so hätte bestraft werden sollen, wie er bestraft wurde. So geschmacklos sein allgemeiner Ansatz auch ist: Für die Zulässigkeit von etwas zu argumentieren, ist nicht dasselbe wie es selbst zu tun. In einer Gesellschaft, die die Freiheit des Denkens schätzt, müssen wir hart darum kämpfen, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, sonst bricht das ganze Unternehmen, über Ethik zu argumentieren, völlig zusammen.»
Kershnar klagt jedenfalls auf das Recht, an seine Lehranstalt, kurz «SUNY at Fredonia» genannt, zurückzukehren. Seine Universität wiederum verteidigt seine Verbannung mit dem Argument, sie sei notwendig, weil sonst die Sicherheit der Lehranstalt gefährdet sei.
Wie die New York Times schreibt, hätte eine Studentin der SUNY at Fredonia sogar eine Petition gestartet, in der sie erklärte, sie fühle sich auf dem Campus nicht sicher, weshalb sie die Entfernung von Dr. Kershnar fordere. Die Ansichten die Philosophieprofessors, so die Petition, seien «direkt schädlich für eine Gemeinschaft, die bereits mit Fällen von sexuellen Übergriffen und Kämpfen mit dem Thema Einwilligung zu tun hat». Die Petition hat bereits mehr als 60’000 Unterschriften gesammelt.
Auch hätten ehemalige Studenten damit gedroht, kein Geld mehr zu spenden. Und aus Gerichtsdokumenten gehe hervor, dass die Situation mit Kershnar «unbestreitbar» für die Uni zu einem Verlust von Spenden und einem Rückgang der Einschreibungen geführt hätte. Mehrere Mitglieder des Ausschusses für Hochschulbildung der New York State Assembly hätten an den Kanzler des gesamten SUNY-Systems geschrieben und die «sofortige Entlassung» des Hochschullehrers verlangt.
Noch beunruhigender sei, dass die Universität mit Gewaltandrohungen konfrontiert worden sei. In einer der Drohungen, die in einer Gerichtsakte zitiert wurde, hiess es:
«Ich hoffe, die Eltern teeren und federn dich, schneiden dir die Eingeweide heraus und schleifen deine Leiche durch die Stadt.»
Kershnar hat derweil über dieses Thema seit Jahren ausführlich geschrieben. Im Jahr 2015 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel «Pedophilia and Adult-Child Sex: A Philosophical Analysis» («Pädophilie und Sex zwischen Erwachsenen und Kindern: Eine philosophische Analyse»). In einer auf Amazon veröffentlichten Zusammenfassung zum Werk heisst es:
«Dieses Buch bietet eine philosophische Analyse von Sex zwischen Erwachsenen und Kindern und Pädophilie. Dieser Sex wird von vielen Menschen intuitiv als krank, ekelhaft und falsch empfunden. Das Problem ist, dass nicht klar ist, ob diese Urteile gerechtfertigt sind, und ob sie ästhetisch oder moralisch sind.»
Kershnar habe seine Karriere aufgebaut, indem er provokante, wenn auch rigoros und professionell argumentierte Positionen vertrat, welche die Menschen erschrecken oder amüsieren könnten, so die New York Times. Dazu zählten Fragen wie: Ist es moralisch in Ordnung, einen Orgasmus vorzutäuschen, asiatische Liebespartner zu bevorzugen oder kein Trinkgeld zu geben? Ja, ja und nein, würden seine Antworten darauf lauten – und auf die letzte Frage könne man auch ja antworten, wann man dem Kellner ausdrücklich sage, dass man kein Trinkgeld geben wolle.
Zitiert wird in diesem Zusammenhang Justin Weinberg, ein Philosophieprofessor an der Universität von South Carolina und Herausgeber von Daily Nous, einer beliebten Philosophie-Nachrichten-Website:
«Dr. Kershnar ist ein ‹sokratischer Quälgeist›, der grundlegende Annahmen in Frage stellt, oft auf ziemlich ärgerliche Weise, um zu versuchen, ein klareres Verständnis von Moral zu erlangen und zu verstehen, warum etwas falsch ist oder nicht.»
Teil von Kershnars Verteidigungsstrategie besteht nun darin, zu argumentieren, dass die von der Universität zitierten Nachrichten keine tatsächlichen Drohungen darstellten, die ein Verbot des Campus rechtfertigen würden. Und er bekommt Unterstützung von Verfechtern der freien Rede, die vortragen, es sei bedenklich, dass eine vage Behauptung, es bestünde die Möglichkeit von Gewalt, als Rechtfertigung dafür herhalten kann, dass ein Professor auf unbestimmte Zeit vom Campus verbannt wird.
«Sobald man dieses Prinzip akzeptiert», so Mark Oppenheimer, Anwalt im südafrikanischen Johannesburg und Co-Moderator von Brain in a Vat, «kann man jede Rede verbieten, die man will». Die Philosophie sei besonders anfällig für Missverständnisse in der Öffentlichkeit. Und weiter:
«[Philosophen] sagen die wildesten Dinge und kommen mit den seltsamsten Fällen und jeder Zuschauer würde sagen: ‹Aber ihr seid doch alle verrückt.› So war es auch bei Steve».»
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