In Deutschland wird wieder Angst vor der «russischen Gefahr» geschürt. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte kürzlich in einem Interview:
«Wir müssen also einkalkulieren, dass Wladimir Putin eines Tages sogar ein NATO-Land angreift.»
Experten hielten das in einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren für möglich, so Pistorius. Deshalb müssten wir «wieder mit der Gefahr leben lernen und uns vorbereiten – militärisch, gesellschaftlich und beim Zivilschutz».
Der aktuelle Bundeswehr-Generalsinspekteur Carsten Breuer stiess vor wenigen Tagen, kurz vor seinem Besuch in Kiew, in dasselbe Horn:
«Wenn ich den Analysten folge und sehe, welches militärisches Bedrohungspotenzial von Russland ausgeht, dann heisst das für uns fünf bis acht Jahre Vorbereitungszeit.»
Breuer behauptet, er erkenne bei Russlands Präsident Wladimir Putin die entsprechende Intention, Krieg gegen die NATO führen zu wollen, «aus dem, was er geschrieben und gesagt hat – und aus seinen Handlungen in der Ukraine».
Die Zeitung Welt am Sonntag, die das Interview mit Breuer am Samstag online veröffentlichte, schrieb denn auch: «Russlands Präsident Wladimir Putin droht Europa mit Krieg.»
«Keine konkreten Belege»
Stimmen der Vernunft sind angesichts der massiven Angstmache und Kriegstreiberei kaum zu vernehmen und werden vom medialen Mainstream ignoriert. Zu den wenigen Stimmen gehört Harald Kujat, ehemaliger Bundeswehr-General-Inspekteur (2000 bis 2002) und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (2002 bis 2005). Er widerspricht in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit der Zeitung Preußische Allgemeine der allgemeinen Rede von der «russischen Gefahr».
Diese Warnungen, die es auch in anderen europäischen Ländern gebe, stammten vor allem von zivilen Experten, so Kujat. Sie beruhten auf der Erkenntnis, dass Russland sich im Krieg in der Ukraine nicht so schwach zeige, wie es im Westen anfangs vermutet wurde. Kujat sagt zur vermeintlichen «russischen Gefahr»:
«Allerdings habe ich bislang keinen konkreten Beleg dafür gesehen, dass Russland tatsächlich die Absicht hat, NATO-Staaten anzugreifen. Dass ein kriegführendes Land seine militärische Durchhaltefähigkeit erhöht, ist nicht ungewöhnlich. Zudem sieht sich Russland in einem Stellvertreterkrieg mit den USA und ihren Verbündeten und rechnet offenbar damit, dass NATO-Streitkräfte möglicherweise direkt eingreifen würden, um eine totale Niederlage der Ukraine abzuwenden.»
Der Ex-General macht darauf aufmerksam, «dass Russland nicht in der Lage wäre, einen konventionellen Krieg gegen die NATO erfolgreich zu führen. Allerdings wäre umgekehrt die NATO auch nicht in der Lage, einen solchen Angriff aus dem Stand abzuwehren.» Zudem würde in den USA die Lage «längst nicht so dramatisch beurteilt wie in Europa».
«Russland will Ukraine nicht erobern»
Wenn die USA eine Kriegsgefahr für Europa sähen, würden sie ihre militärische Präsenz auf dem europäischen Kontinent wieder hochfahren, so Kujat. Sie würden militärische Ausrüstung und Waffen in europäischen Depots lagern, damit eingeflogene Kampftruppen schnell ausgerüstet seien. Doch das geschehe derzeit nicht, betont der Ex-Bundeswehr-General.
«Eine wichtige Frage ist letztlich, ob ein russischer Angriff praktisch möglich wäre. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass Russland die Ukraine erobert, um von dort aus weiter nach Westen vorstossen zu können. Bisher ist jedoch nicht erkennbar, dass Russland dazu in der Lage ist oder auch nur die Absicht dazu hat.»
Kujat weist darauf hin, dass die russische Armee im Februar 2022 mit 190’000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert ist. Deren Streitkräfte seien mindestens doppelt so stark gewesen, «vom Westen hervorragend ausgebildet und ausgerüstet». Der russischen Führung müsse klar gewesen sein, dass «damit die Eroberung der Ukraine unmöglich war».
Russland habe zudem im Zuge der Istanbuler Verhandlungen im März 2022 seine Truppen aus den eroberten Gebieten um Kiew abgezogen. Ausserdem habe es den vollständigen Rückzug auf den Stand vor Angriffsbeginn vertraglich zugesichert, so Kujat, der weiter sagt:
«Insofern gehe ich davon aus, dass der Angriff auf die Ukraine nicht Teil eines imperialen Plans zur Rückeroberung des ehemaligen sowjetischen Einflussbereiches beziehungsweise darüber hinaus ganz Europas ist. Es geht Moskau offenbar vielmehr darum, die Ausweitung der NATO durch die Mitgliedschaft der Ukraine bis an die russische Grenze zu verhindern.»
Russland habe bereits Mitte der 90er Jahre das Ziel einer strategischen Pufferzone zur NATO – eines «Cordon sanitaire» – verfolgt. Diese Idee habe Moskau seit einiger Zeit «wieder in der Form einer entmilitarisierten Zone auf ukrainischem Territorium» aufgebracht.
«Mit der anderen Seite reden»
Auch mit Blick auf die baltischen Staaten, deren Sicherheitsbedenken er verstehe, sagt Kujat, er «erkenne nur derzeit weder konkrete Angriffsvorbereitungen noch Angriffsabsichten der Russen». Er erinnert an den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), der ein militärisches Gleichgewicht als ein notwendiges, aber kein hinreichendes Element, den Frieden zu sichern, angesehen habe.
«Hinzukommen muss das Bemühen, das militärische Gleichgewicht politisch zu stabilisieren. Hinzukommen muss auch der Wille, mit der anderen Seite zu reden und auf ihre Interessenlage einzugehen. Hinzukommen müssen nicht zuletzt Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen sowie Vereinbarungen über grössere Transparenz und militärische vertrauensbildende Massnahmen.»
Der Westen habe dabei ein «argumentatives Problem», da die USA Abrüstungsverträge wie den ABM-Vertrag aufgekündigt und gleichzeitig ein Raketenabwehrsystem aufgebaut haben. Dieses könne «durchaus als Bedrohung der russischen nuklearen Zweitschlagsfähigkeit verstanden werden». Auch der INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen und der Vertrag über den «Offenen Himmel» als Instrument zu mehr Transparenz und Vertrauensbildung seien gekündigt worden. «Damit wurde ein wesentlicher Teil des politischen Sicherungsnetzes beseitigt, das seit den 1970er Jahren geknüpft worden war», bedauert Kujat.
Er sieht den Grund dafür in der Tatsache, dass die USA «den Rückzug der Sowjetunion auf das russische Kernland, die Auflösung des Warschauer Vertrages und den Fortbestand der NATO sowie die Wiedervereinigung Deutschlands als NATO-Mitgliedstaat als Sieg im Kalten Krieg und als Triumph über den systemischen Gegner verstanden». Und:
«Sie glaubten, auf die russischen Interessen nicht mehr Rücksicht nehmen zu müssen und versuchten, ihren Einfluss insbesondere in Georgien und der Ukraine auszuweiten.»
Ein weiterer Aspekt wir auch benannt:
«Dagegen waren die engen wirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands zu Russland auch vor dem Hintergrund des russisch-chinesischen Schulterschlusses nicht im amerikanischen Interesse.»
Aus seiner Sicht steuern wir auf «ein Zeitalter der Ungewissheit und grosser Konflikte» zu. Er zeigt sich besorgt, «dass bei uns darüber kaum diskutiert, geschweige denn angemessen reagiert wird». Er fordert dazu auf, sich auf die eigentliche Aufgabe der Aussen- und Sicherheitspolitik zu besinnen. Ein idealer Kompass dafür sei die Präambel des Grundgesetzes. Dort wird das Ziel formuliert, «als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen».
«Dies entspricht unseren Interessen als grosser Handelsnation und mahnt zugleich alle Akteure, sich von internationalen Abenteuern und Risiken fernzuhalten.»
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