Die führenden Kreise in den USA seien mit Blick auf den Ukraine-Krieg «sehr wohl bereit, mit Russland zu verhandeln, um eigene Sicherheitsinteressen zu wahren». Das hat der Sicherheits- und Militärexperte Wolfgang Richter in einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärt.
In dem am Dienstag online veröffentlichten Gespräch weist Richter, ehemaliger Bundeswehr-Oberst, darauf hin, dass Washington nicht an einer weiteren Eskalation in der Ukraine interessiert sei. Deshalb seien unter anderem die US-Lieferungen weitreichender Waffen wie den Himars- und ATACMS-Systemen zurückgefahren worden.
«Man bleibt zwar bei der Forderung, dass Moskau seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen müsse, aber von der ‹strategischen Niederlage› Russlands ist nicht mehr die Rede. Stattdessen werden in informellen ‹back channels› gemeinsame Interessen erörtert.»
In den USA werde die Lage «weitaus nüchterner diskutiert als in Deutschland». In Berlin habe «das Moralisieren über die Realpolitik triumphiert» und würden Verhandlungen gar als «Verrat» diffamiert werden.
«Russland bleibt unser Nachbar»
Die Politik der EU-Staaten habe sich noch nicht auf diese Lage eingestellt und keine überzeugende Strategie gefunden, so Richter. Er fügte hinzu:
«Europa darf sich nicht von Hoffnungen und Wunschdenken leiten lassen.»
Das Denken in Worst-Case-Denken allein schaffe langfristig keine Stabilität, erklärte der Sicherheits- und Militärexperte. Das löse nicht nur Wettrüsten aus, sondern fördere die Gefahr der Eskalation durch Fehleinschätzungen und präventiven Handlungsdruck.
«Russland wird unser regionaler Nachbar bleiben. Wenn es gelingen soll, künftig zu einer stabilen Sicherheitsordnung in Europa zurückzukehren, werden auch wieder Rüstungskontrollvereinbarungen nötig sein.»
Richter sieht einen Schlüssel zur Beendigung des Ukraine-Krieges in der Lösung des übergeordneten geopolitischen Konflikts in Europa. «Diese Aufgabe können wir nicht Kiew aufbürden, darüber müssen wir selbst mit Russland reden», stellt er klar.
NATO-Atommächte gegen «Taurus»-Lieferung?
In dem Interview geht er auch auf die Debatte in Deutschland um mögliche Lieferungen von «Taurus»-Marschflugkörpern ein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte am Donnerstag im Deutschen Bundestag sein Nein dazu wiederholt.
Die Haltung des Kanzlers, der bei vorherigen Waffenlieferungen nach anfänglichem Zögern immer «kippte», muss nicht an seiner vermeintlich vernünftigen Einsicht in die möglichen Folgen liegen. Einen möglichen Grund für das Nein von Scholz macht Ex-Oberst Richter deutlich:
«Die Leistungsfähigkeit des Taurus-Marschflugkörpers geht wegen seiner Reichweite, seiner Steuerungspräzision und seiner Durchschlagskraft weit über alles hinaus, was die drei NATO-Atommächte bereit sind zu liefern.»
Mit dem Flugkörper könnten strategische Ziele in Russland erreicht und getroffen werden, «wenn deutsche Daten und Expertise in die Zielplanung einfliessen». Das hätte sich durch das abgehörte Gespräch der Luftwaffen-Offiziere der Bundeswehr gezeigt, so Richter. Er bezeichnet die Darstellung einzelner Waffensysteme als «Gamechanger» als «völlig verfehlt».
Russische Aussagen wie die von Ex-Präsident Dmitri Medwedew oder von TV-Journalisten, die Verhandlungen ausschliessen und dem Westen massive Vergeltung androhen, sieht Richter als Propaganda für die eigene Bevölkerung an. Diese würden nicht die Fachdiskussion der strategischen Eliten in Moskau wiedergeben.
«Dort werden die Ziele erörtert, die Moskau seit vielen Jahren verfolgt: Verhinderung eines ukrainischen NATO-Beitritts, Sicherung der Halbinsel Krim und territoriale Anbindung des Donbas, aber auch des Korridors zur Krim, ausserdem Sicherheitsgarantien, damit eine Lösung künftig nicht mehr angefochten wird.»
Richter sieht angesichts der geringeren Ressourcen der Ukraine im Vergleich zu Russland das Kiewer Ziel, die ukrainischen Grenzen von 1991 wiederherzustellen, als «militärisch nicht lösbar» an. Daher liege es nahe, eine politische Lösung anzustreben.
Unmoralische und zynische Ukraine-Politik des Westens
Der Experte spricht sich dafür aus, die Ukraine weiterhin finanziell und militärisch zu unterstützen, und betont zugleich:
«Es wäre aber unmoralisch, die Ukrainer zu ermutigen, für ‹unsere Werte› und ‹unsere Sicherheit› zu sterben, während eine realistische Chance auf einen ‹Siegfrieden› nicht in Sicht ist und man zugleich Verhandlungen ausschliesst.»
Der Schweizer Militärexperte und Ex-Oberst Jacques Baud hatte kürzlich in einem Interview deutlich gemacht, dass es voraussehbar war, dass Russland nicht verliert und die Ukraine die Krim nicht zurückerobert. Dies zeige, dass die Entscheidungsfindung in westlichen Ländern nicht mehr rational funktioniere, was er für «extrem gefährlich» hält.
Baud bezeichnete die westliche Haltung, die Ukraine weiter gegen Russland kämpfen zu lassen, als «extrem zynisch». Die gegenwärtige politische Führung im Westen sei «sehr schlecht» und funktioniere nur nach dogmatischen Grundsätzen, nicht nach den Prinzipien der Vernunft. Mit Blick auf die Debatte um NATO-Truppen in der Ukraine sagt er, dass ihm dieser Mangel an Vernunft Angst mache.
Der ukrainische Politologe Konstantin Bondarenko erklärte in einem Interview mit dem ungarischen Journalisten Gabor Stier zu einer möglichen Verhandlungslösung:
«Zunächst einmal verbietet ein Dekret des Präsidenten jegliche Verhandlungen mit Russland. Aber auch Moskau hat wiederholt deutlich gemacht, dass es nicht mit Kiew über die Beendigung des Konflikts verhandeln will, da die Ukraine nicht selbstständig ist, sondern mit den Vereinigten Staaten verbunden ist.»
Bondarenko erklärte, die EU spiele bei der Frage, ob der Krieg durch Verhandlungen beendet werden kann, keine Rolle, «da Europa in diesem Spiel keine Karte in der Hand hält. Washingtons Wille ist wichtig, aber das Weisse Haus hat es nicht eilig, den Konflikt einzufrieren.»
Der ehemalige Bundeswehr-General und Regierungsberater Erich Vad hatte im Februar gegenüber der Berliner Zeitung erklärt:
«Im Endeffekt wird also über das Schicksal der Ukraine in Washington und Moskau entschieden werden.»
Auch er erklärte, dass in anderen Ländern «anders, differenzierter, ausgewogener und realistischer diskutiert und kommentiert wird als in Deutschland». Es sei bedauerlich, «dass wir hier nicht so eine offene Debatte über den Ukraine-Krieg hatten, wie sie zum Beispiel in den USA geführt wird».
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