Seit dem 8. Oktober beschiessen sich Israel und die libanesische Hisbollah gegenseitig. Zu einem vollständigen Krieg ist es noch nicht gekommen, doch die Gefahr steigt täglich. In Israel sprechen sich viele für einen grösseren Angriff gegen die Miliz aus. Die Journalistin Dahlia Scheindlin analysiert in Haaretz die Folgen, die ein solcher Krieg hätte.
Scheindlin zufolge scheint die Hisbollah einen vollständigen Krieg vermeiden zu wollen, eine Position, die durch Reden ihres Anführers Hassan Nasrallah verstärkt werde. Trotzdem gebe es in Israel Stimmen, die eine aggressivere Vorgehensweise befürworten würden. Die Regierung sei angeblich kurz vor einem grossen, eskalierenden Schlag gegen die Gruppe gewesen, sei jedoch von den USA abgehalten worden, die auch Kriegsschiffe in die Region schickten, um die Hisbollah und andere regionale Akteure abzuschrecken.
Laut der Journalistin hatten manche Israelis die Idee eines grossen Angriffs schon lange vor dem aktuellen Krieg. In einem Beitrag der rechtsgerichteten Israel Hayom sei dazu aufgerufen worden, den Libanon am 6. Oktober 2022 anzugreifen – ein ganzes Jahr vor dem Angriff der Hamas.
Die möglichen Folgen eines Krieges, sowohl für Israel als auch für den Libanon, würden gemäss Scheindlin enorm sein. Die Hisbollah könnte tiefer ins Landesinnere Israels vordringen, vielleicht sogar überall im Lande, und erheblichen Schaden anrichten. Ein libanesischer Analyst mit Sitz in Dubai, der nicht namentlich genannt werden wollte, teilte der Journalistin mit, die Hisbollah habe durch den Einsatz von Präzisionsraketen signalisiert, dass sie das Verteidigungssystem Iron Dome überwältigen könne. Sie behauptete, dass die Hisbollah zuerst auf die Infrastruktur abzielen wird:
«Können Sie sich Tel Aviv ohne Strom, Schulen, Krankenhäuser, Supermärkte vorstellen – wie sollen die funktionieren?»
Scheindlin stellt fest, dass sich die israelische Regierung das offenbar vorstellen kann. Ende Januar sei in den sozialen Medien ein Dokument mit dem Logo des Justizministeriums kursiert, in dem Notfallanweisungen für den Fall eines ausgewachsenen Krieges im Norden und Angriffen auf Kraftwerke aufgeführt gewesen seien. Das Memo habe vor Stromausfällen gewarnt und empfohlen, sich mit Wasser, Handybatterien und einem Transistorradio einzudecken, «um nur einige der vielen Positionen der alarmierend langen Liste zu nennen».
Laut Aziz Alghashiand, saudischer Forscher zur Aussenpolitik, bringt der Iran anscheinend eine grössere Unterstützung für die Hisbollah als für die Hamas auf. Ein Krieg könne eine regionale Krise auslösen. Er warnt vor der Möglichkeit, dass der Iran und seine von ihm unterstützten Milizen eine aktive Rolle spielen würden, was zu einer Ausweitung des Konflikts führen könnte. Er glaubt nicht, dass die jüngsten US-Schläge gegen solche Milizen eine echte Abschreckung bewirkt haben.
Trotz dieser begrenzten Schläge will die US-Regierung einen regionalen Krieg offenbar vermeiden. Gegenüber Scheindlin erklärte Frederic Hof, Diplomat in Residence am Bard College, im Falle eines Krieges zwischen Israel und dem Libanon «wäre die oberste Priorität der Biden-Administration, ihn schnell zu beenden». Hof sei im Aussenministerium von 2009 bis 2011 für die Friedensvermittlung zwischen Israel und Syrien sowie zwischen Israel und dem Libanon zuständig gewesen.
Hof zufolge befürchtet die Regierung, dass die Hisbollah «mit Sicherheit Zivilisten angreifen würde, [und] israelische Beamte haben bereits versprochen, den Libanon für die Aktionen der Hisbollah verantwortlich zu machen». Diese Situation würde «schwere zivile Opfer und umfangreiche Sach- und Infrastrukturschäden auf beiden Seiten der Blauen Linie [der von den Vereinten Nationen gezogenen Grenze zwischen Israel und dem Libanon]» nach sich ziehen und auch US-Bürger gefährden; daher bemühe sich die Regierung bereits um Deeskalation.
Eine Eskalation könnte auch die Region destabilisieren und die Beziehungen zwischen den Staaten in der Region beeinträchtigen. So könnte laut Alghashian Saudi-Arabien Israel nicht mehr als verlässlichen Partner sehen, wenn es zu einer regionalen Eskalation käme. Dies könnte die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, gefährden. Sollte ein solcher Krieg zu einer Eskalation der Houthi-Angriffe, auch auf Saudi-Arabien, führen, könnte dies auch «ein echtes Problem für die Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran» sein.
Trotz der möglichen verheerenden Folgen scheinen einige israelische Politiker einen Krieg im Norden zu befürworten, während eine Umfrage zeigt, dass eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung politische Lösungen bevorzugt. Scheindlin schliesst:
«Es bleibt zu hoffen, dass die Israelis die Kosten nicht selbst herausfinden müssen. (…) Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt und ob ein Krieg vermieden werden kann.»
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