Nach vielen Stunden «politischer Inquisition und angeregter Argumentation» habe die britische Covid-Untersuchungskommission endlich die Erwähnung der wichtigsten Kontrollgruppe im globalen Abriegelungsexperiment zugelassen: Schweden. Mit diesen Worten beginnt ein Bericht des Magazins Unherd.
Unter den mehr als 700 Dokumenten, die noch kurz vor der parlamentarischen Weihnachtspause diesbezüglich veröffentlicht wurden, befand sich auch ein schriftlicher Beitrag des ehemaligen schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell.
Tegnell wird als «Architekt der schwedischen Laissez-faire-Reaktion auf Covid» vorgestellt, der «sowohl verehrt als auch geschmäht» werde. Sein Beitrag enthalte eine Flut unbequemer Fakten, die in «typisch nordischer Gelassenheit» vorgetragen würden.
Der Grund der Kommission, Dr. Tegnell zur Beantwortung von Fragen einzuladen, sei laut Unherd gewesen, Boris Johnson des Leichtsinns zu überführen, weil er im September 2020 nicht früher einen zweiten Lockdown anordnete. Tegnell habe nämlich in jenem Monat an einem Zoom-Meeting mit Johnson und Sunak teilgenommen, wo andere Stimmen gehört werden sollten. Es werde vermutet, die Briten hätten den Lockdown im Herbst zum Teil aufgrund dieses Treffens verschoben.
Evidenzbasierte Entscheidungen
Dr. Tegnell beantwortet in dem Bericht eine Reihe von schriftlichen Fragen über jenes Meeting und über die schwedische Erfahrung. Welchen Ansatz Schweden bei Abriegelungen verfolgt habe? «Keine formale Abriegelung». Was mit den sogenannten «Circuit-Breaker»-Mini-Lockdowns sei? «Keine.» Und was das Gesamtergebnis in Bezug auf die überzähligen Todesfälle gewesen sei, bzw. die Anzahl der Menschen, die infolge der Covid-Zeit starben? «Die Übersterblichkeit variiert je nach Methode leicht, aber Schweden liegt auf dem gleichen Niveau wie die nordischen Länder und manchmal sogar darunter. Das Vereinigte Königreich hat eine wesentlich höhere Übersterblichkeit.»
Allein die Kombination dieser beiden Daten – dass das einzige Land in Europa, in dem es keine Lockdowns gab, die niedrigste Zahl an überzähligen Todesopfern auf dem ganzen Kontinent aufwies – sollte ausreichen, um zu dem Schluss zu kommen, dass Lockdowns ein Fehler waren, argumentiert Unherd.
Das Mindestmass an Belegen für ein so «radikales und für die Gesellschaft zerstörerisches politisches Experiment» müsse sicherlich sein, dass es definitiv Leben gerettet habe. Diese Schwelle sei nicht erreicht worden, und das schwedische Beispiel deute sogar darauf hin, dass die Covid-Politik längerfristig durchaus Leben gekostet haben könnte.
In seinen Aussagen vor der Kommission vermeide Tegnell akribisch alle ihm gestellten Fallen, befindet das Magazin. Er bestehe darauf, dass er immer vermieden habe, konkrete Ratschläge zur Frage zu geben, ob das Vereinigte Königreich abriegeln sollte oder nicht. In einem Memo, das er damals an die britische Regierung schrieb, sei er zu dem Schluss gekommen, dass das Vereinigte Königreich in irgendeiner Form tätig werden, sich dabei aber von der Evidenz leiten lassen sollte.
Die Notwendigkeit von Beweisen betone Tegnell unablässig: Wenn er nicht davon überzeugt war, dass eine bestimmte Massnahme nachweislich funktionierte (z. B. die Vorschrift von Gesichtsmasken), habe er sich geweigert, sie einzuführen. Infolgedessen sei in Schweden, bis auf einige wenige Ausnahmen, ganz auf Gesichtsmasken verzichtet worden.
Schwedische Technokraten und die Verfassung
Der vielleicht interessanteste Teil von Dr. Tegnells Aussage sei seine Analyse der Auswirkungen der schwedischen Verfassung. Anders als in den meisten parlamentarischen Demokratien, einschliesslich des Vereinigten Königreichs, ist es schwedischen Politikern untersagt, sich in die Arbeit der Regierungsbehörden, einschliesslich der Gesundheitsbehörde, einzumischen.
«Die Regierung legt fest, welche Ziele die Agenturen verfolgen und wie viel Geld ihnen zur Verfügung steht. (...) Aber sie hat keine Befugnis, in die Anwendung des Gesetzes durch eine Agentur einzugreifen.»
Der wahre Grund, warum Schweden dem weltweiten Ansturm auf Lockdowns im Jahr 2020 widerstanden hat, sei also gewesen, dass seine Technokraten (wie Tegnell) allmächtig waren. Während Politiker sofort von Medienberichten, der öffentlichen Meinung und politischem Druck beeinflusst werden könnten, seien die schwedischen Behörden verfassungsrechtlich vor diesen Einflüssen geschützt gewesen.
Darüber hinaus enthält die schwedische Verfassung einen besonderen Ansatz für das Krisenmanagement. Dieser ziele genau darauf ab, Machtkämpfe zwischen Regierungsstellen während einer Krise zu vermeiden. Darin sind drei Grundsätze verankert:
- Verantwortung (die normalen regionalen Behörden behalten während einer Krise ihre Zuständigkeit)
- Ähnlichkeit (Business-as-usual als ausdrückliche Tugend und Ziel, so dass die Politik während einer Krise so ähnlich wie möglich sein sollte)
- Nähe (die unterste dezentralisierte Behörde sollte die Verantwortung behalten – es sei denn, dies ist absolut unmöglich –, um eine Übernahme durch die Zentralregierung zu vermeiden).
Diese Rubrik diene speziell dazu, Machtübergriffe durch die Zentralregierung in so genannten Notfällen zu vermeiden. Tegnell fährt fort:
«Die schwedische Verfassungsordnung lässt die Ausrufung des Ausnahmezustands nicht zu. Grundlegende bürgerliche Rechte und Freiheiten können nur im Kriegsfall ausgesetzt werden. Notfälle im Bereich der öffentlichen Gesundheit werden daher durch das allgemeine Recht geregelt. (...) Es ist rechtlich unmöglich, eine allgemeine Quarantäne oder Lockdown-Massnahmen durchzusetzen.»
Selbst wenn die schwedischen Politiker dem internationalen Druck nachgegeben und Abriegelungen gefordert hätten, wären sie verfassungsrechtlich nicht in der Lage gewesen, diese zu verhängen.
Wenn die britische Covid-Kommission tatsächlich daran interessiert gewesen sei, sich auf künftige Krisen vorzubereiten, dann sei diese Lektion von Anders Tegnell eine essenzielle, resümiert Unherd. Sie weise in die entgegengesetzte Richtung zu der «muskulösen» Zentralregierung asiatischer Prägung, die auch bei britischen Politikern sehr beliebt sei.
Der schwedische Weg lege nahe, dass man, um die Menschen während einer sogenannten Krise zu schützen, die Politiker heraushalten, die Ausbreitung von Panik verlangsamen und die Tugend des «Ruhe bewahren und weitermachen» gesetzlich verankern sollte. Das sei einmal eine britische Tugend gewesen, und eine realitätsnähere Covid-Untersuchung hätte sie vielleicht wiederentdeckt.
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