Niederländische Forscher haben eine besorgniserregende Entwicklung bei der Zulassung von Krebsmedikamenten durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) aufgedeckt. Sie fanden heraus, dass viele dieser zwischen 1995 und 2020 zugelassenen Medikamente, insbesondere solche, die im Rahmen beschleunigter Zulassungsverfahren genehmigt wurden, keinen signifikanten Zusatznutzen für Patienten zeigten. 189 der 458 und damit 41 Prozent der Bewertungen von 131 Krebsmedikamenten zeigten keine Zusatznutzen oder ein solcher war nicht quantifizierbar.
Diese Enthüllung, auf die Study Finds aufmerksam macht, veröffentlichten die Wissenschaftler im British Medical Journal (BMJ). Sie erfolgt vor dem Hintergrund steigender globaler Ausgaben für Onkologie-Medikamente. So betrugen diese im Jahr 2020 167 Milliarden Dollar und sollen bis 2025 auf 269 Milliarden Dollar steigen.
Das wirft Fragen nach der Übereinstimmung zwischen Medikamentenpreisen, den Kosten für Forschungs- und Entwicklung (F&E) und dem tatsächlichen Wert dieser Medikamente für Patienten auf.
Wie Study Finds erläutert, bezieht sich das Konzept des «Zusatznutzens» auf den zusätzlichen therapeutischen Wert, den ein neues Medikament gegenüber bestehenden Behandlungen bietet. Es sei eine entscheidende Kennzahl zur Bewertung, ob ein neues Medikament die Patientenversorgung tatsächlich vorantreibt oder lediglich die finanzielle Belastung ohne signifikante Gesundheitsverbesserungen erhöht.
Diese Studie zeichnet sich durch ihre gründliche Analyse aus, die auf Bewertungen verschiedener Gesundheitstechnologie-Bewertungs-Agenturen (HTA), medizinischen Onkologiegesellschaften und einem Arzneimittelbulletin beruht. Den Autoren zufolge spielen diese Organisationen eine entscheidende Rolle bei der Bewertung des Werts neuer Medikamente und bei der Leitung wichtiger Entscheidungen über die klinische Anwendung und die Erstattung durch Gesundheitssysteme.
Ihre Bewertungen würden auf einem Vergleich der Wirkungen eines neuen Medikaments mit denen der besten verfügbaren Alternative basieren – ein Prozess, der über die Nutzen-Risiko-Bewertungen hinausgehe, die in der Regel von Regulierungsbehörden wie der EMA durchgeführt werden.
Die Ergebnisse der Arbeit geben Anlass zur Sorge über den aktuellen Stand der Zulassung von Onkologiemedikamenten, insbesondere auch im Zuge beschleunigter Verfahren wie der bedingten Marktzulassung und der «Zulassung unter aussergewöhnlichen Umständen».
Über diese Schnellzulassungen sollen angebliche Behandlungen schneller zu den Patienten gelangen, insbesondere in Fällen, in denen vermeintlich keine anderen wirksamen Optionen verfügbar sind. Die Studie zeigt jedoch, dass Medikamente, die über diese Wege genehmigt wurden, eher einen negativen oder nicht quantifizierbaren Zusatznutzen hatten im Vergleich zu denen, die den Standardzulassungsprozess durchliefen. Die Autoren erklären in einer Pressemitteilung:
«Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer besseren Abstimmung zwischen regulatorischen und Erstattungsprozessen, insbesondere für Medikamente, die über beschleunigte Wege zugelassen wurden.»
Trotz des Mangels an robusten Nachweisen für den Zusatznutzen vieler dieser Medikamente zeigt die Studie, dass sie dennoch beträchtliche Einnahmen generieren können. So konnten mehr als die Hälfte der untersuchten Medikamente ihre mittleren F&E-Kosten von 684 Millionen Dollar innerhalb von nur drei Jahren nach Markteinführung wieder hereinholen.
50 von 55 (91%) Arzneimitteln konnten diese Kosten innerhalb von acht Jahren wieder einspielen. Arzneimittel mit höherem Zusatznutzen hatten laut den Forschern im Allgemeinen höhere Einnahmen. Negative oder nicht quantifizierbare Bewertungen des Zusatznutzens seien bei bedingten Zulassungen und Zulassungen unter aussergewöhnlichen Umständen häufiger aufgetreten als bei Standardzulassungen.
Diese schnelle Kapitalrendite haben sogar Medikamente, für die kein signifikanter therapeutischer Fortschritte nachgewiesen ist. Das widerspricht der Argumentation der Pharmaindustrie, der zufolge hohe Medikamentenpreise notwendig seien, um die F&E-Kosten zu decken.
Darüber hinaus zeigt die Studie einen besorgniserregenden Trend auf: Eine zunehmende Anzahl von Onkologiemedikamenten wird auf der Grundlage weniger umfassender Beweise zugelassen, etwa auf Basis nicht-randomisierter Studien oder Surrogatendpunkten, die keinen direkten klinischen Nutzen messen. Dieser Ansatz kann gemäss den Autoren zu erheblicher Unsicherheit bei der Bestimmung des tatsächlichen Werts dieser Medikamente für Patienten führen.
Die Arbeit beruft sich auf Bewertungen von sieben Organisationen: Agenturen für die Bewertung von Gesundheitstechnologien aus den Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland und Italien, zwei Gesellschaften für medizinische Onkologie und ein Arzneimittel-Bulletin. Die Umsatzdaten wurden gemäss den Forschern öffentlich zugänglichen Finanzberichten entnommen und mit veröffentlichten Schätzungen der Forschungs- und Entwicklungskosten verglichen.
Schliesslich sei der Zusammenhang zwischen Zusatznutzen und Einnahmen bewertet worden. Mit bedingten Zulassungen seien geringere Einnahmen erzielt worden, und es habe länger gedauert, bis die F&E-Kosten ausgeglichen waren als bei Standardzulassungen (vier Jahre gegenüber drei Jahren). Die Wissenschaftler fordern:
«Die politischen Entscheidungsträger sollten prüfen, ob die derzeitigen Anreize zur Regulierung und Kostenerstattung die Entwicklung der wirksamsten Arzneimittel für die Patienten mit dem grössten Bedarf wirksam fördern.»
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