In der Bundesrepublik gibt es in vielen Städten Stadtviertel, die durchaus als «Armen-Ghettos» bezeichnet werden können. Es ist die anhaltende soziale Spaltung zwischen Arm und Reich, die dazu führt. Das gehört zu den Ergebnissen einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), die am Freitag veröffentlicht wurde.
Die Konzentration von Wohngebieten, in denen vor allem arme Menschen leben, ist demnach vor allem in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet zu beobachten. In süddeutschen Städten gibt es dagegen laut der Studie eine grössere soziale Durchmischung – aufgrund der hohen Mieten.
Autor der Studie mit dem Titel «Hinter den Fassaden. Zur Ungleichverteilung von Armut, Reichtum, Bildung und Ethnie in den deutschen Städten» ist der Sozialwissenschaftler Marcel Helbig. Er forscht derzeit am WZB und hat die räumliche Verteilung armer Menschen sowie derjenigen mit hohem Einkommen, hoher Bildung oder auch mit ausländischer Staatsangehörigkeit untersucht. Dafür hat er offizielle Daten von 153 deutschen Städten ausgewertet.
Die Armutssegregation, also die ungleiche räumliche Verteilung armer Bevölkerungsgruppen, habe sich im untersuchten Zeitraum von 2005 bis 2022 verschärft, heisst es. Sie habe besonders stark in Städten zugenommen, die vorher schon durch diese Entwicklung geprägt waren. Dazu zählen laut Helbig im Osten Schwerin, Halle (Saale) und Rostock und im Westen Kiel, Minden und Ratingen.
Diese Entwicklung habe sich vor allem in Ostdeutschland zugespitzt und 2021 ein «deutlich höheres Niveau als in anderen Regionen erreicht». Die soziale Schere sei dort vor allem zwischen den Plattenbausiedlungen und den Innenstädten oder Vororten weiter auseinander gegangen.
Eine ähnliche Entwicklung gebe es in norddeutschen Städten, dort aber nicht so «dynamisch», wie es heisst. In den Städten des Ruhrgebiets in Westdeutschland sei für die Zeit von 2013 bis 2020 eine solche räumliche Spaltung zu beobachten, verbunden mit einer wachsenden Armutsquote im einstigen industriellen Herz der Bundesrepublik.
Der Studie zufolge ist aber die ungleiche Verteilung von Armut in süddeutschen Städten eher rückläufig. Zum einen habe dort der wirtschaftliche Aufschwung Armutsquartiere verhindert. Zum anderen gibt es laut Helbig dort eine grössere soziale Durchmischung, weil sich Menschen mit mittleren Einkommen oft nur noch Mieten in ärmeren Stadtteilen leisten könnten.
Für alle Städte gelte: «Gerade arme Haushalte mit Kindern konzentrieren sich in bestimmten Stadtteilen.» In Ostdeutschland wiederum sei zu verzeichnen, dass aufgrund der positiven Wirtschaftsentwicklung der Anteil der Stadtviertel, in denen mehr als der Hälfte aller Kinder in Armut aufwächst, rückgängig ist. Das Gegenteil sei seit 2021 im Ruhrgebiet zu beobachten, so das WZB in seiner Pressemitteilung zur Studie.
In allen Städten zeigt sich danach ebenfalls: Wo besonders viele Arme leben, leben auch besonders viele Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. «Vor allem in ost- und norddeutschen Städten sowie in den Städten des Ruhrgebiets erfolgte ab 2013 die Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland besonders in die von Armut geprägten Stadtteile.» Bis 2013 habe es in den ostdeutschen Städten nur einen geringen Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und Armut gegeben.
Der WZB-Studie nach ist das Muster der sozialen Spaltung nicht in allen Städten gleich. So gebe es welche, in denen sich die Armut stark im Zentrum konzentriere. Als Beispiele dafür werden Wolfsburg und Gelsenkirchen genannt. In anderen Städten sei das an den Stadträndern der Fall, während in Ostdeutschland Arme vor allem in den Plattenbausiedlungen leben.
Bereits 2018 wurde vor dieser Entwicklung gewarnt, nachdem das WZB damals eine ähnliche Studie veröffentlicht hatte. Vor fünf Jahren wurden Rostock und Schwerin in Mecklenburg-Vorpommern als Städte mit der grössten sozialen Spaltung in Deutschland ausgemacht.
Damals hiess es in einem Bericht der Ostsee-Zeitung dazu, in Ostdeutschland habe sich die Ghettobildung unterschiedlich stark entwickelt. Rostock und Schwerin seien vor allem wegen ihrer ausgedehnten Plattenbauviertel in den Aussenbezirken stark betroffen. Dresden und Magdeburg dagegen nicht, weil in den dortigen im Zweiten Weltkrieg zerstörten Innenstädten nach 1950 die neuen Wohnungen entstanden seien.
Die beschriebene Entwicklung dürfte zunehmen: Die Einkommensungleichheit in Deutschland ist in der sogenannten «Corona-Krise» grösser geworden und die Armutsquote hat bis 2022 neue Höchstwerte erreicht. Das zeigt der Verteilungsbericht 2023 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, der kürzlich veröffentlicht wurde.
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