Mindestens jede und jeder Fünfte der erwachsenen Bundesbürger sind gegenüber den politischen Institutionen wie Regierung und Parlament misstrauisch eingestellt. Das berichtet das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in einem Beitrag der aktuellen Ausgabe seiner WZB-Mitteilungen. Neue Umfragen würden zeigen, dass die Krisen der letzten Jahre in Deutschland zu einem «erheblichen Vertrauensverlust» der Bürger in die politisch Verantwortlichen geführt haben.
Laut den Erkenntnissen der beiden WZB-Forscher Edgar Grande und Daniel Saldivia Gonzatti hat sogar ein Viertel der Bundesbürger «sehr geringes» bis gar kein Vertrauen in Regierung und Parlament. Das betreffe die «beiden Kerninstitutionen der repräsentativen Demokratie» und werde systematisch unterschätzt.
Die beiden Autoren beziehen sich insbesondere auf die «Corona-Proteste» im Winter 2021/2022 und die Proteste gegen die Energiepolitik im Winter 2022/2023.
«Diese beiden Protestbewegungen waren ein wichtiger Teil der deutschen Protestlandschaft in den letzten Jahren.»
Sie würden zu den «neuen sozialen Bewegungen» gehören, die im letzten Jahrzehnt entstanden seien. Zudem seien sie «durch grosse Heterogenität gekennzeichnet», was für ihre Themen ebenso gelte wie für ihre Organisation, ihre soziale Zusammensetzung und nicht zuletzt die politischen Orientierungen der Teilnehmenden.
Studien zufolge sei der gemeinsame Nenner dieser Proteste, «neben der grossen Bedeutung sozialer Medien», vor allem das fehlende politische Vertrauen. Dieses Vertrauen sei zwar in Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen grundsätzlich «relativ hoch», es habe aber bereits seit etwa zehn Jahren abgenommen.
Die beiden WZB-Forscher heben hervor, die «erhebliche Vertrauenslücke» in Deutschland sei «kein Corona-Effekt, von dem man hätte erwarten können, dass er nach dem Ende der Pandemie wieder verschwindet». Das Vertrauensdefizit sei auch nicht auf den Regierungswechsel im Dezember 2021 zurückzuführen. Es habe sich schon unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Pandemiepolitik gezeigt.
Unabhängig vom konkreten Anlass der Protestbewegungen gebe es in Deutschland «eine grosse Gruppe von misstrauischen Bürgern». Zu dieser gehöre den repräsentativen Umfragen nach jede und jeder fünfte Befragte. Die Proteste wie die gegen die Corona-Politik und die gegen die Energie-Politik könnten als «Aufstand der Misstrauischen» interpretiert werden, heisst es.
Laut den Autoren führt das politische Misstrauen nicht zu einem Rückzug der Bürger von der Politik und zu politischer Apathie, wie die Theorie der Postdemokratie annehme.
«Die misstrauischen Bürgerinnen und Bürger besitzen, ganz im Gegenteil, eine deutlich überdurchschnittliche Protestbereitschaft.»
Zugleich beziehe sich das hohe Protestpotenzial nicht nur auf die Gruppe der grundsätzlich Misstrauischen. Bei den Protesten gegen die Energiepolitik habe sich gezeigt, dass das Verständnis dafür unter den Bürgern sehr viel verbreiteter sei.
Menschen ohne Vertrauen in Regierung und Parlament haben den Autoren zufolge auch «ein starkes Gefühl der politischen Ohnmacht». Das Gefühl, keinen Einfluss auf das Regierungshandeln zu haben, gehe mit einer geringen Demokratiezufriedenheit einher. In beiden Krisen hätten sich 23 Prozent der Befragten «völlig unzufrieden mit der Art und Weise gezeigt, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert».
Dabei gehe es den kritischen und misstrauischen Bürgern nicht um die Demokratie an sich – ohne, dass definiert wird, was das nun genau sein soll –, sondern um deren Zustand und das ausgemachte Defizit dabei. Viele von ihnen würden eine Lösung des Problems in mehr direkter Demokratie sehen – «konkret: der Einführung eines bindenden Volksentscheids auf Bundesebene».
«Je weniger politisches Vertrauen die Bürger haben, desto stärker befürworten sie die Einführung von Volksentscheiden als Alternative zur parlamentarischen Demokratie. Das wichtigste politische Ziel der misstrauischen Bürger ist es also nicht, die Demokratie durch ein autoritäres System zu ersetzen, sondern durch eine andere Form der Demokratie.»
Trotz dieser Erkenntnisse sehen die WZB-Forscher in dem ausgemachten Misstrauen und der Protestbereitschaft «Anlass zur Sorge um die Demokratie in Deutschland». Sie schreiben, es gebe Grund, «den misstrauischen Bürgern gegenüber misstrauisch zu sein».
Sie könnten zwar «ein erhebliches Potenzial für fortschrittliche politische Reformen in Deutschland» darstellen, seien aber ein «ambivalentes Phänomen: Sie sind jenseits von Wahlen politisch aktiv und setzen sich für mehr demokratische Beteiligung ein, wie dies für progressive politische Bewegungen charakteristisch ist».
Aber sie würden sich «deutlich von den Eigenschaften aufgeklärter Postmaterialisten» unterscheiden. Und sich selbst zwar «überwiegend in der politischen Mitte» verorten, aber «mit einigen ihrer politischen Positionen finden sie sich bei regressiven und illiberalen Bewegungen wieder». Die Sozialforscher sortieren die misstrauischen Bürger denn auch «politisch vor allem bei der AfD» ein.
Am Ende stellen die beiden Autoren fest, die Tatsache, dass 20 bis 25 Prozent der Bürger kein Vertrauen in Regierung und Parlament haben, sei «eine denkbar schlechte Voraussetzung für jedes ambitionierte Regieren». Darauf, dass die Inhalte dieses Regierens und die Frage, wessen Interessen es dient, zu den Quellen des ausgemachten Misstrauens gehören, gehen sie nicht ein.
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