Liebe Leserin, lieber Leser,
niemand hätte je für möglich gehalten, dass ein derart grosser Anteil Beschäftigter im Homeoffice arbeiten wird: Einer Umfrage des ifo-Instituts zufolge waren dies im zweiten Quartal 2020 etwa 60 Prozent. Corona sei Dank, mag der eine da sagen, während der andere kritisch die Stirn runzelt.
Der eine, Wolfgang-Hubertus Heil (SPD), seines Zeichens Arbeitsminister in Deutschland, verkündete Anfang Oktober 2020 seinen Entwurf, das «Mobile-Arbeits-Gesetz»:
Mindestens 24 Tage mobiles Arbeiten pro Jahr sind angedacht.
Der andere, Typ gebranntes Kind, lässt die vergangenen Wochen und Monate Revue passieren. Er arbeitet bei einem Callcenter für ein internationales Unternehmen und weiss, wie Homeoffice unter den Vorzeichen neoliberaler Marktvollstreckung auch aussehen kann.
Denn über Tools, die sein Arbeitgeber verwendet, wird jede seiner Aktivitäten in Echtzeit überwacht
Es wird registriert, dass seine morgendliche Toilettenpause am Montag vier Minuten zu lang war – ebenso wie das Gespräch mit einem Kunden, der partout nicht verstehen wollte, dass die Ware nicht komplett geliefert werden kann. Und er erinnert sich an jene Klauseln in Ergänzung seines Arbeitsvertrages, die das Unternehmen vollständig enthaften:
Per Unterschrift musste er geloben, selbst für einen ergonomischen und sicheren Arbeitsplatz zu sorgen.
Ob er sich dann beim stieren Blick auf einen Monitor aus dem Jahr 2003 die Augen verderben oder beim sechsstündigen Dauerritt auf einem hölzernen Küchenstuhl eine Blockade des Iliosakralgelenks zuziehen wird, interessiert höchstens seine Physiotherapeutin.
Denn was bei all den Debatten um die angeblich so moderne wie arbeitnehmerfreundliche Variante der Berufsausübung gerne vergessen wird:
Es gibt neben den Vorteilen wie Zeit- und Wegeersparnis und der Verwirklichung einer freiheitlichen Selbstbestimmung viele, sehr viele Nachteile.
Soziales Miteinander ist passé, kittender Smalltalk fehlt, soziale Kompetenzen verkümmern.
In Augen ergründen, in Gesichtern lesen, die feinen Antennen ausfahren? Skype lässt so etwas nicht zu – Glas, Kabelwerk, Platinen und Kilometer stehen dazwischen.
So, wie Heimarbeit isoliert, so kann sie dem Disziplinierten, dem Akribischen, dem Workaholic zur Stressfalle werden.
Wann genau ist genug getan? Die Kinder rufen, der Partner klopft, die Waschmaschine fordert die zweite Trommel, Geschirrkonvolute harren der Bürste, im Garten wächst die Laubdecke bis zu den Knöcheln, und hinter der Tür warten Zahlen und Buchstaben, auch wenn es 21 Uhr abends ist, und Mensch, Bildschirm und Tastatur schon zehn Stunden lang im Einsatz waren. Alles hautnah, alles nicht zu vergessen.
Für Konzerne dagegen dürfte ein achtzigprozentiger Anteil an Homeoffice tatsächlich erstrebenswert sein. Angenehm, dass man sich nicht kümmern muss um leidige – und teure – Arbeitsplatzgestaltung, sich nicht bemühen um ein kollegiales Miteinander. Und was das Beste ist:
Eine Belegschaft aus Homeworkern kann man zu Einzelkämpfern erziehen.
Einzelkämpfer aber rangeln fürs eigene Ego. Sie haben kein Interesse an Austausch und Gemeinschaft, denn das Gegenüber ist Konkurrenz, mehr denn je.
Wo jedoch keine Gemeinschaft, da kein gemeinsames Ziel. Und wo kein gemeinsames Ziel, da keine Veränderung. Prekäre Arbeitsverhältnisse und all die daraus erwachsenden Probleme werden in die privaten vier Wände transferiert – und der Status quo in Heim und Hirn wird eingefroren.
Full-time-Homeoffice ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.
Es grüsst Sie herzlich,
Marita Vollborn